Dass Handke die Entscheidung des Nobelpreiskomitees in einen Zustand von gefühlter "Objektivität" versetzte, deutet eher darauf hin, dass er dazu nicht mehr gewillt ist.

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Peter Handke war beim Schuheputzen, als er den Nobelpreis-Anruf aus Schweden bekam. Seine Reaktion ging über persönliche Befriedigung weit hinaus: "Es war ein großer Friede in mir. (...) Es war mehr als ich, es war etwas Objektives." An dieser Schilderung in einem Zeit-Interview ist sowohl das Detail mit den Schuhen von Belang wie die Gestimmtheit, in die ihn die gute Nachricht versetzt.

1987 traf Handke in Split einen Schuhputzer, der sich so gut auf seine Arbeit verstand ("langsam, bedachtsam, Lederstück für Lederstück"), dass sich dabei "seine Tätigkeit in ein Werk" verwandelte.

Die Notiz aus Noch einmal für Thukydides (1990) kann über dem gesamten späteren Werk von Handke stehen – er wäre in dieser Szene, die klarerweise ein Bild ist, der Schuh, der Mann mit dem Lappen und auch der Wanderer, der die Schuhe nach Makedonien und schließlich bis nach Japan trägt, immer behütet durch den "ursprünglichen Glanz" aus Split.

Zwei Dimensionen

Das Gefühl von Objektivität, das ihn bei der Nachricht von der Auszeichnung überkam, dürfte mit diesem "unversehrten" Glanz zu tun haben: Handke konnte sich vom Komitee aus Schweden in einer Mission bestätigt fühlen, die wesentlich in seiner Einzelgängerei besteht – die Suche nach einer persönlichen Sprache für übersehene Wirklichkeiten zählt da dazu wie auch die Suche nach einer Wahrheit über Ereignisse auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, die sich nur einem Dichter wie Handke erschließt, während die restliche Welt sich an "reportsnotorische" Berichte der "West- oder Weltpresse" hält.

Dass die beiden Dimensionen in Handkes Werk – seine "Eigentlichkeitssehnsucht" (Wolfgang Müller-Funk) und sein Kontrarianismus in Bezug auf Jugoslawien – unverbrüchlich zusammengehören, könnte man auch dem einen Vergleichsfall entnehmen, der in dieser Sache wohl am aufschlussreichsten ist: dem des Philosophen Martin Heidegger.

Am 27. Mai 1933, wenige Wochen nach der Machtübernahme der Nazis, trat Heidegger das Amt des Rektors der Uni Freiburg mit einer Rede an, in der er von "drei Bindungen der deutschen Studentenschaft" sprach: an die Volksgemeinschaft, an die Ehre und das Geschick der Nation und an den geistigen Auftrag des deutschen Volkes.

Zwei Jahre später, bereits enttäuscht von der konkreten Nazi-Politik und ihrem "Rosenberg-Blödsinn", sprach Heidegger immer noch von der "inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung". Die Forschung hat lange gebraucht, um der Radikalität und Komplexität von Heideggers Parteinahme gerecht zu werden.

Vor allem durch die Veröffentlichung der Schwarzen Hefte wurde in den letzten Jahren deutlicher, dass Heidegger zwar kein herkömmlicher Nazi war, wohl aber ein "seinsgeschichtlicher Antisemit" (Peter Trawny) mit einem Demokratieverständnis, das sich nur als "verheerend" (Florian Grosser) bezeichnen lässt.

Strukturelle Analogien

Handkes Engagement für das Jugoslawien von Miloševic ist mit Heideggers Begeisterung für Hitler natürlich nicht im strengen Sinn zu vergleichen. Es sind vor allem strukturelle Analogien, die den Fall Handke in der Literatur als ein Nachspiel zu dem Fall Heidegger in der Philosophie erscheinen lassen.

In beiden Fällen gilt die relevante Frage den inneren Beweggründen dafür, sich in einem bestimmten Moment so unverbrüchlich mit einem historischen Ereignis zu verbinden, aber auch mit einer Despotenfigur und mit einer Idee, ein Volk könnte eine besondere Rolle für die Menschheit spielen.

In beiden Fällen hängen die Sphäre der Politik und die Sphären des Denkens/Dichtens offensichtlich zusammen. Handke ist sicher kein Heideggerianer in dem Sinn, dass er sich wirklich für dessen Philosophie interessiert. Aber er teilt mit dem Autor der Holzwege mehr als nur einen sprachlichen Gestus (Florian Grosser hat dafür den Begriff der "Entnormalsprachlichung" geprägt).

Was für den Philosophen die "Entbergung" einer Wahrheit im Rückgriff auf eine eigenwillige Deutung der griechischen Philosophie wurde, ist für den Dichter eine Konzentration auf "die einfachen Vorgänge" (Die Wiederholung), auf das "Sich-Erkenntlich-Zeigen der Dinge" – diese Wortschöpfung aus den Phantasien der Wiederholung könnte man fast als Programmbegriff für Handke nehmen, und es steckt darin doch auch eine Menge unausdrücklicher Heidegger.

"Klarstellung" und "Aufrechnung"

Handke hätte es ohne weiteres bei dieser literarischen Stiftung einer Weltbeziehung belassen können, die Heidegger in seinem Vortrag Wozu Dichter? als "das Offene des reinen Bezugs" beschrieben hat, damals noch mit Blick auf Hölderlin und Rilke. Aber die Suche nach Ursprünglichkeit hat eben immer auch eine gesellschaftliche Seite.

Und für Handke wurde die autobiografisch begründete Entdeckung eines "großen Landes", in das 1960 sein Alter Ego Filip Kobal zum ersten Mal kam (wenn man dem Roman Die Wiederholung folgt), zu einem dem "metaphysischen Auftrag" des deutschen Volkes für Heidegger analogen Umstand.

"Wie hat es angefangen?" Diese Frage ist in ihrer ganzen Zweideutigkeit die Kehrseite des Sich-erkenntlich-Zeigens der Dinge. Handke stellt sie immer wieder, in Die Tablas von Daimiel, seinem Nichtbericht über den Prozess gegen Miloševic, formuliert der dann plötzlich eine sehr konkrete Antwort, benennt er einen Ort (Kravica) und ein Ereignis ("das Weihnachtsmassaker 1993" von bosnischen Muslimen an Serben) als einen Anfang, von dem aus der Genozid von Srebrenica dann als eine Vergeltungsmaßnahme ein Maß an Legitimität gewinnen kann.

Dass er im selben Atemzug die "Mütter von Srebrenica" ein wenig diskreditiert ("organisiert und aktiviert für die Weltöffentlichkeit, hoffentlich von den Müttern selber"), ist dann eben nicht mehr Teil der "Klarstellung", die er für sich reklamiert, sondern genau jene "Aufrechnung", von der er sich eigentlich abgrenzt.

Eitel genug

Seine Parteinahme für die "Indianer", für das serbische Volk, ist ganz entscheidend in seiner Zivilisations- und Medienkritik begründet – auch in dieser ist Handke ganz nahe bei Heidegger, der mit Begriffen wie "das Man" und "die Machenschaft" die Moderne vor allem an ihren Problemen und nicht an ihren Errungenschaften maß.

Handke schreibt gegen das "Aktualitäten-Getrommel" und gegen die "Rasse der Unerreichbaren", die "Ohren und Augenmerk für rein gar nichts auf Erden" haben, und er ist eitel genug, sich in Die Obstdiebin in einer langen Selbststilisierung als "Illegalen" zu bezeichnen. Als wäre er mit seinem grenzenlosen inneren Monolog auf einer Ebene mit all denen, die an den Grenzregimes auf dieser Erde tagtäglich verzweifeln oder sogar sterben.

Das Prophetenamt, das Heidegger lange für die Philosophie innehatte, kommt erst dann zu sich, wenn es gelingt, die persönliche Vision an "etwas Objektives" zu binden. Zugleich ist das immer auch der kritische Punkt, an dem sich zeigt, ob jemand in der Lage ist, die eigene Position auch an einer anderen Instanz zu messen als am Fortgang der eigenen Gedanken.

Dass Handke die Entscheidung des Nobelpreiskomitees in einen Zustand von gefühlter "Objektivität" versetzte, deutet eher darauf hin, dass er dazu nicht mehr gewillt ist. Den Unterschied zwischen "mehr ich" und "mehr als ich" macht er nicht mehr. Sein Gefühl kommt aus einer Rationalisierung – er meint sich von einer literaturbetrieblichen Ehrung in seinem persönlichen Wahrheitsbezug bestätigt. Diese Qualifikation könnte er aber nur auf eine Weise wirklich einlösen: mit einer selbstkritischen Rede. (Bert Rebhandl, 7.12.2019)