In der Kontroverse rund um die Vergabe des Literaturnobelpreises an Peter Handke erhob der Germanist und Leiter des Grazer Literaturhauses Klaus Kastberger besonders häufig seine Stimme: Er gehört auch zu jenen, die eine von zahlreichen Autoren und Literaturwissenschaftlern unterzeichnete Erklärung mitinitiierten, die sich gegen die "Anti-Handke-Propaganda" richtete. Wir trafen Kastberger zum Gespräch.

STANDARD: Waren Sie von der Heftigkeit der Handke-Debatte überrascht?

Kastberger: Ich bin überrascht, dass diese sogenannte Debatte nicht längst versiegt ist. Sehr viel Neues erfährt man seit einiger Zeit ja nicht mehr. Zumindest, was die zentralen Fragen anbelangt. Der Grund, warum die Debatte weiterhin geführt wird, ist die Übergabe des Nobelpreises am 10. Dezember. Es gibt eine Gruppe, die, völlig unbeirrt von Argumenten, einen klaren Eskalationskurs fährt. Es wird eine Gegendemonstration geben, Schilder werden in die Höhe gehoben, Redner auftreten. Das ist ja auch alles legitim, braucht aber eben mediale Vorbereitung.

STANDARD: Kann man die Mitglieder dieser Gruppe benennen?

Kastberger: Für die meiste Aufregung hat die Nobelpreisvergabe in Bosnien gesorgt. Dort fühlt man sich von dem, was Handke sagt, am meisten brüskiert. Teilweise auch mit Recht. Dževad Karahasan hat schon 1996 in Bezug auf Handkes Sommerlichen Nachtrag gesagt, ihm fehle an diesem Text ein Wort des Mitgefühls den bosnischen Opfern gegenüber. Dabei ist Handkes Literatur aber ein Versuch, an eine Möglichkeit des Friedens zu denken. Dieses literarische Friedensprojekt ist, was die bosnische Seite anbelangt, aber fundamental schiefgegangen. Es ist kein Zufall, dass es bei den Müttern von Srebrenica und anderen Opferorganisationen höchste Verstörung gibt. Und natürlich auch bei Literaturwissenschaftern und Autorinnen mit jugoslawischem Hintergrund wie Alida Bremer oder Vahidin Preljevic. Vieles von dem, was sie sagen und behaupten, ist auch nicht infrage zu stellen.

Beschäftigt sich intensiv mit dem Werk von Peter Handke: Germanist Klaus Kastberger
Foto: Wildberger

STANDARD: Das Wort vom "Genozidleugner" kommt in erster Linie von dieser Seite. Das ist ein starker Vorwurf.

Kastberger: In politischen Debatten muss man vereinfachen, aber dieser spezielle Vorwurf ist eine Schweinerei. Handke zu unterstellen, dass er Verbrechen bewusst leugnet, ist eine Behauptung, die von dieser Gruppe wider besseren Wissens aufrechterhalten wird. 2007 gab es sogar einen Gerichtsprozess gegen eine Zeitung, die behauptet hat, Handke würde Verbrechen leugnen. Da hat Handke recht bekommen.

STANDARD: Opferverbände oder auch einzelne Literaturwissenschaftler würden sich ohne massive mediale Verstärkung kaum Gehör verschaffen können. Die Handke-Debatte wird aber breit und international geführt. Sie scheint einen neuralgischen Punkt zu treffen.

Kastberger: Die Opfer haben in ihrem Schmerz immer recht. Einer der zentralen Vorwürfe ist, Handke hätte die Opfer verhöhnt. Das ist ein starker Vorwurf, den man aus meiner Sicht differenzieren muss. Ich denke nicht, dass man Handke unterstellen kann, sich in einem bewussten Akt über jemanden lustig gemacht zu haben. Man muss Handke genau lesen. Die zentrale Stelle im Sommerlichen Nachtrag handelt davon, wie der Journalismus mit Opferberichten seine, wie Handke sagt, "miesliterarischen Geschichten" macht. Da wird kein Zweifel an der Tatsache der Verbrechen von Višegrad geäußert, sondern es geht darum, was der Journalismus, tränentriefend, daraus macht.

STANDARD: Medienkritik ist ein wichtiger Aspekt bei Handke. Aber doch nur ein Teilaspekt.

Kastberger: Handke behauptet einen literarischen Wahrheitsanspruch. Er geht davon aus, dass er mit literarischen Mitteln zur Wahrheitsfindung beitragen kann. Für die Nobelpreisrede (Samstag um 17.30 Uhr, Livestream auf www.nobelprize.org, Anm.) hat er angekündigt, aus Über die Dörfer zu zitieren, einem sehr pathetischen Stück. Über die Dörfer ist ein "dramatisches Gedicht", dessen zentraler Gedanke es ist, dass das Erzählen zur Rettung der Welt beitragen kann. Handke hat das Stück 1980/81 geschrieben, also lange vor den Jugoslawienkriegen. Damals schrie niemand auf, weil dieser Wahrheitsanspruch niemandem wehgetan hat. Seit den Jugoslawientexten ist das anders. Auch bei der Nobelpreisrede wird Handke behaupten, dass seine Literatur in ihren Ansprüchen recht hat. Etwas anderes kann man von jemandem, der seit 50 Jahren schreibt, nicht erwarten. Handke rennt also sehenden Auges in eine neue Aufregung hinein.

STANDARD: Dabei hat sich Handke viel mit Medien und der Öffentlichkeit beschäftigt, die sie herstellen. Er müsste es also besser wissen. Warum verwehrt er sich?

Kastberger: Handke hat in gewissen Punkten recht. Mitte der 90er-Jahre nimmt er wahr, dass die mediale Wirklichkeit von antiserbischen Bildern dominiert ist. Er geht davon aus, dass diese Art von Journalismus aus ideologischen Gründen heraus eine Wirklichkeit schaffen will, und er sagt, das wäre in einer aufrichtigen Literatur nicht möglich, weil das zu einfach gestrickt ist. Ich denke, jene, die ihn angreifen, könnten das anerkennen. Umgekehrt ist es aber auch so, dass Handke immer wieder unhaltbare politische Statements abgegeben hat. Handke ist ein Trotzkopf, er hat immer wieder provokative Akte gesetzt. Das betrifft die Nähe zu serbischen Nationalismen, das betrifft den Punkt, dass er in Miloševic den letzten Repräsentanten eines einigenden jugoslawischen Gesamtgedankens sieht. Wenn man sich die historischen Fakten ansieht, dann ist dem aber nicht so. Der serbische Nationalismus ist einer der wesentlichen Zersetzungsmechanismen aller panjugoslawischen Gedanken.

STANDARD: Handke trat sogar bei Miloševics Begräbnis auf. Wie geht das zusammen mit dem Friedensprojekt, das er Ihrer Ansicht nach verfolgt?

Kastberger: Mit seinen Gesprächsangeboten, beginnend mit der Winterlichen Reise, biss Handke auf Granit. Daraufhin hat er sich in den Folgejahrzehnten immer stärker dem serbischen Nationalismus angenähert und sich im Umfeld von Kriegsverbrechern gezeigt. Wie gesagt, Handke ist ein Trotzkopf. Bei der Nobelpreisrede hätte er die Chance, die richtigen Worte zu finden. Aber ich bin mir sicher, er wird sie aus guten Gründen, die er hat, nicht nutzen. Die Debatte liegt auch deswegen schief, weil Handke ihre stumme Mitte ist, ab und zu garniert mit einem Wutausbruch. Dabei könnte ihm der Nobelpreis wirkliche Gelassenheit verschaffen.

Die Nobel-Woche begann Peter Handke mit Autogrammeschreiben vor seinem Hotel in Stockholm. Dann ging es zur Pressekonferenz.
Foto: Karl Schöndorfer TOPP

STANDARD: Die Debatte wird mit viel Inbrunst geführt. Marcel Reich-Ranicki hat einmal gesagt, dass die Leser Handkes eine Anhängerschaft sei, "die ein gläubiges Verhältnis zu ihm" habe. Liegt hier ein weiterer Grund für die Polarisierung?

Kastberger: Es gibt einige Anwürfe, die in der Debatte immer wieder kommen. Die Ergriffenheit gehört dazu. Es stimmt, es gibt im Umfeld von Handke einige Leute, die man vielleicht als Jünger bezeichnen könnte. Aber die sind doch nicht repräsentativ für die breite Handke-Leserschaft! Man könnte sich vielmehr fragen, wer die Gewinner und wer die Verlierer in der Debatte sind? Es gibt nämlich einen klaren Gewinner, und das ist die schwedische Akademie.

STANDARD: Wie das?

Kastberger: Weil die Akademie ganz genau wusste, was da kommt. Nach der Aufregung beim Ibsen- und Heine-Preis konnte man an allen zehn Fingern abzählen, was passieren wird. Jetzt ist die Akademie fein raus, niemand spricht mehr über die Krise der Institution.

STANDARD: Ist das wirklich so? Der Nobelpreis soll laut Satzung an das "Herausragendste in idealistischer Richtung" gehen. Weil dem für viele nicht so ist, wurde die Akademie scharf angegriffen.

Kastberger: Es gibt doch keinen größeren Idealisten als Handke! Er glaubt, mit literarischen Mitteln in dieser hochkomplexen Region zur Lösung von Problemen beitragen zu können. Das Statut sagt jedenfalls nichts über die Person des Preisträgers. Es spricht davon, dass er oder sie in der Literatur Herausragendes geleistet haben soll.

STANDARD: Die meisten Medien interpretieren das anders. Besonders intensiv wird darüber diskutiert, wie es in diesem Fall um die Trennung von Autor und Werk steht.

Kastberger: Diese Trennung funktioniert heute nicht mehr. Und schon gar nicht bei jemandem wie Handke. Bei ihm gehören Ethik und Schreiben untrennbar zusammen. Handke hat mit seiner Poetik, die er seit 50 Jahren verfolgt, das Literarische, das Politische und das Persönliche untrennbar miteinander verknüpft.

STANDARD: Seit Roland Barthes ist die Trennung von Autor und Werk beinahe ein Dogma der Literaturwissenschaft.

Kastberger: Diese strukturalistische Grundthese wurde Gott sei Dank schon lange über Bord geworfen. In der Literaturwissenschaft hat man in den letzten Jahrzehnten meterweise Bücher über Handke veröffentlicht, um die Jugoslawientexte allerdings hat man bis auf einige wenige Ausnahmen einen Bogen gemacht. Da sehe ich ein großes Versäumnis. Deutschsprachigen Literaturwissenschaftern wird jetzt vorgeworfen, sich historisch und politisch nicht auszukennen, und der politischen Handke-Kritik, die die Debatte derzeit in einzigartiger Weise dominiert, unterstellt, seine Texte nicht genau genug gelesen zu haben. An beiden Vorwürfen ist etwas dran, es repräsentiert sich aber in keinem von beiden die letzte Wahrheit. (Stephan Hilpold, 7.12.2019)