Amerikanische Thanksgiving-Idylle von einst: Den Niedergang der Familie im Westen zu beklagen ist beliebt, aber falsch.
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Familien werden vor allem in konservativen Kreisen gerne als Keimzellen der Gesellschaft und des Staates bezeichnet. Starke Familien, so das Argument, sorgen dafür, dass die größere Gemeinschaft auch gut funktioniert.

Aber warum sind dann die Familienbande gerade in Entwicklungsländern mit schwachen oder kaum existenten staatlichen Strukturen so ausgeprägt? Warum wird dafür in den nordischen Staaten mit ihren reifen Zivilgesellschaften kaum noch geheiratet und weisen andere europäische Demokratien besonders hohe Scheidungsraten auf?

Die Frontlinie

Die Rolle der Familie bildet heute eine Frontlinie zwischen westlichen und nichtwestlichen Gesellschaften. Während hierzulande der Familienbegriff vieler Migranten als überholtes patriarchales Korsett gesehen wird, das vor allem Ehefrauen und Kinder ihrer Freiheiten beraubt, herrscht anderswo Unverständnis über die fehlende Solidarität und Loyalität in europäischen oder amerikanischen Familien.

Wie kann es nur sein, bekam meine Mutter vor einigen Jahren von einer Einwanderin aus Aserbaidschan zu hören, dass sie bei keinem ihrer drei Söhne wohnt? Was sind das für Menschen, die ihre Mutter alleinlassen, fragte vorwurfsvoll die Frau, die mit ihrer erwachsenen Tochter in einer deutschen Stadt wohnt. Sollten Sie nicht Ihrer Tochter mehr Freiheit lassen, fragte meine Mutter zurück – und stieß damit wiederum auf Befremden.

Der Westen gegen den Rest der Welt

In weiten Teilen der Welt ist es der Normalfall, dass mehrere Generationen unter einem Dach leben, die Eltern den Ehepartner aussuchen und man ihnen auch als Erwachsener gehorcht, die Sexualmoral streng ist, die Scheidung verpönt und die Bevorzugung von Verwandten gegenüber Fremden ganz natürlich ist.

Was in Europa als Nepotismus und Korruption gilt, ist anderswo die einzig zulässige Moral. Wer seine Familie im Stich lässt, ist ein Verräter und muss in manchen Gesellschaften sogar ums Leben fürchten. In kaum einem anderen Bereich ist die kulturelle Kluft so groß wie bei der Familie.

Man kann, muss aber nicht

Das kann man religiös, kulturell, sozial oder wirtschaftlich erklären – oder politisch. Die Familie mag zwar einst eine Keimzelle des Staates gewesen sein. In Demokratien mit Rechtsstaat und einem sozialem Netz verliert sie allerdings an Bedeutung: Ein Europäer kann sich seiner Familie zugehörig fühlen, aber er darf sich auch von ihr entfernen.

Diese Entwicklung lässt sich gut durch politische Theorie erklären. Zivilisation basiert auf Kooperation, doch diese entsteht nicht von selbst. In der Spieltheorie gibt es das berühmte Modell des Gefangenendilemmas; es illustriert, dass jene, die kühl kalkulierend ihre Eigeninteressen verfolgen, den Interessen der Gemeinschaft schaden – und damit letztlich auch sich selbst. Man bleibt auf diesem destruktiven Pfad, weil man damit rechnet, dass die anderen ebenso eigennützig handeln. Je stärker diese Erwartung, desto mehr tendieren Menschen zu Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit. Auch bei uns gibt es Trittbrettfahrertum, wird im Straßenverkehr rücksichtslos gefahren, die Umwelt verpestet oder der Klimawandel ignoriert.

Keimzelle und Gefängnis

Kooperation entsteht erst in gesellschaftlichen Strukturen, in denen Vertrauen herrscht, dass auch andere die Regeln befolgen, und man Bestrafung fürchtet, wenn man gegen Gemeinschaftsinteressen handelt. Die traditionelle Familie sorgt für beides, für Geborgenheit und Gehorsam. Sie ist daher die Keimzelle der Zivilisation, aber gleichzeitig ein Gefängnis, in dem die Angehörigen durch Religion, Scham und manchmal auch durch Gewalt zum Zusammenhalt gezwungen werden.

Ein moderner Rechts- und Sozialstaat kann diese Aufgaben viel besser erfüllen. Gesetze werden eingehalten, weil man sich sicher sein kann, dass der Großteil der Mitbürger dies ebenfalls tut. Gegenseitige Rücksichtnahme wird durch das Bildungssystem sowie gemeinsame Werte vermittelt und und im Falle von Verstößen durch eine funktionierende Justiz durchgesetzt. Dank eines stabilen Pensionssystems müssen Kinder nicht für ihre Eltern im Alter sorgen. Und wer in eine Notlage gerät, kann sich an staatliche Stellen wenden.

Natürlich ist es schön, wenn Angehörige beispringen oder ihre Eltern im Alter pflegen. Aber es ist nicht zwingend. Ob man die Eltern täglich sieht oder nur zu Weihnachten, ob man seine Geschwister mag oder ihnen aus dem Weg geht, ob man den Lebensstil der Eltern fortführt oder sich davon trennt, all das steht dem Einzelnen frei. In unserer Individualgesellschaft ist das Kollektiv der Familie nur eine von mehreren Wahlmöglichkeiten.

Familien in der Politik

Wer Familienwerte verherrlicht, sollte eines bedenken: Starke Familien stehen starken Staaten im Weg. Wo die Loyalität zum eigenen Clan Vorrang hat, dort entsteht kein gemeinschaftliches Vertrauen. Dann werden Steuern nicht bezahlt und Gesetze ignoriert. Dann setzen Politiker, auch demokratisch gewählte, ihre Angehörigen in alle wichtigen Positionen, weil sie anderen nicht trauen. Dann wird der destruktive Individualismus zwar innerhalb der Familien in Schach gehalten, dafür aber stehen Familien untereinander im ungeregelten Wettbewerb. Das führt zu Korruption, Misswirtschaft, bis hin zu Gewalt und Bürgerkrieg.

Bei aller Liebe zu meiner Frau und meinen Kindern, meinen Brüdern und meiner Mutter sehe ich den Niedergang der Familie im Westen ganz nüchtern als Zeichen des Fortschritts. Ein starker solidarischer Staat kann zwar nicht die menschlichen, sehr wohl aber die politischen Funktionen der Familie ersetzen. Und er soll das auch. (Eric Frey, 12.12.2019)