Sei es in Österreich, sei es wie hier in Irland: Das Kind, das in Begleitung in den ruhigeren Teil des Stadions geht, wird als Teenager auf die Fantribüne wechseln. Eine Art Abnabelung, eine Art Rebellion.

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Im Nachhinein war es gar nicht so weit. Jetzt, da die Beine länger sind und der Körper schwerer ist. Und man den Weg kennt. Aber damals war es die aufregendste Reise, die man sich als Kind vorstellen konnte. Erinnerungen verblassen, verzerren sich. An jedem guten Tag schien die Sonne; wenn man traurig war, hat man jetzt das Gefühl, dass es damals regnete. Das kann falsch sein, ist aber auch egal.

Am Spieltag schien gefühlt immer die Sonne. Zumindest auf der Seele. Schon beim Aufstehen war klar, dass nurmehr ein paar Stunden und dieser elendslange Weg zwischen einem und dem Highlight der Woche standen. Raus, die Mur entlang, über die Brücke, wieder die Mur entlang, auf die Straße, da war das Stadion. Vielleicht würde es heute schöner oder romantischer klingen, wenn Vater und Sohn Hand in Hand zum GAK gegangen wären. Das war nicht so. Dennoch schien jedes zweite Wochenende die Sonne.

An der Nordseite des Casino-Stadions in der Körösistraße in Graz war ein großes Tor. Wenn man die kleinen Hände durch die Metallmaschen drückte und sich daran hochzog, konnte man auch als kleiner Knopf aufs Spielfeld sehen. Es waren lange Minuten, das Verhungern vor dem vollen Teller. "Zur zweiten Halbzeit öffnen sie das Tor, und man kann gratis hinein." Ein Geheimtipp. Ein Pfiff, das Spiel ist in der Pause. Links eine alte, überdachte Tribüne. Rauchende Menschen, vor allem ältere Männer, Biergeruch, es wurde viel geschimpft – eine raue Atmosphäre. Schräg gegenüber, hinter der Stehtribüne, ragte der Schlossberg über Graz. Die Pause war bald vorbei, in Kürze würden die elf Helden wieder auf dem Spielfeld sein. Der große Held aber saß neben einem, trank ein Bier und aß eine Wurstsemmel.

Die Männlichkeit des Erbes

Man bekommt den Verein vererbt, hieß es immer. Man sucht sich seinen Verein nicht aus, hieß es. Man wird als Fan geboren, heißt es heute noch oft. Fußball lebt von Mythen, Ritualen, Narrativen. Eine Welt zwischen Lokalromantik und Kriegsmetaphern. Und Fußballfans können gemein sein. Es gibt richtig und falsch, schwarz und weiß, eine einzige Wahrheit. "Die klassische Initiierung zum Fußballfan war lange Zeit und ist noch immer die Vater-Sohn-Geschichte. Es können aber auch große Brüder, Onkel oder Opas sein. Ausgangspunkt ist eine männliche Bezugsperson", sagt der Wiener Soziologe und Fußballhistoriker Roman Horak (66). Fußball sei noch immer von Männlichkeit geprägt, eines "der letzten Residuen klassischer, männlicher Muster".

Der englische Autor Nick Hornby schreibt in seinem bekannten Roman Fever Pitch über das Erwachsenwerden auf dem Fußballplatz, über das Erwachsenwerden als Fußballfan. Eine Erzählung, die für viele Fußballfans Wiedererkennungswert hat, auch wenn die Romantik oft trieft und das Buch in den Kitsch driftet.

Und dennoch: Einmal eingetaucht in die raue Welt, ist der Sog stark. Die Faszination für den Sport, die Neugierde für die fremden Menschen, die einem doch so nah sind, die Einfachheit der Welt, die 90 Minuten dauert. Sieg, Remis oder Niederlage?

Der französische Anthropologe Christian Bromberger geht einen Schritt weiter, erkennt einen Lebenszyklus als Fußballfan. Als Kind geht man mit dem Vater oder mit dem Onkel in den ruhigeren Teil im Stadion, um später als Teenager auf die Fantribüne zu wechseln. Es handelt sich um eine Art pubertäre Abnabelung, eine Art Rebellion. Dann wechselt man wieder auf die normale Tribüne, wobei die bevorzugten Plätze immer teurer werden.

Fußball ist zunehmend in der Mitte, der Bürgerlichkeit der Gesellschaft angekommen. Für die höchsten Spielklassen steigen die Ticketpreise, der Sport ist längst ein globales Geschäft. In der englischen Premier League ist nurmehr ein Hauch des früheren Working-Class-Charmes zu spüren. Das Publikum ist teils sehr elitär. Ist das familienfreundlicher? Horak: "In England hat sich das Publikum gesellschaftlich nach oben verschoben, bleibt aber vor allem männlich."

In Österreich gilt Red Bull Salzburg als Paradebeispiel. Man will sich als Familienverein positionieren, großer Anziehungspunkt soll der sportliche Erfolg sein. Das Raue, das Verruchte, das Wilde sollen andere Klubs darstellen. "Sie machen das geschickt", sagt Horak. Die Familie als "unique selling point"? Der Soziologe bremst: "Familienfreundlich ist ein Begriff, der im Fußballkontext nicht mehr zeitgemäß ist. Denn von welchem Familienbegriff gehen wir da aus? Das Modell Vater, Mutter, zwei Kinder ist veraltet, stammt aus den Fünfzigerjahren. Wenn in Wien fast jede zweite Ehe geschieden wird und Kinder in Patchworkfamilien aufwachsen, so müsste man das auch auf die Verwendung im Fußball umlegen."

Die bröselnde Bubenwelt

Die Fußballwelt war lange eine reine Bubenwelt. Aber Horak sieht das starre Bild im Wandel: "Es wirkt so, dass sich mit der Veränderung der Gesellschaft auch die Geschlechterrollen im Fußball auflockern. Früher sah man nur ganz wenige Väter mit ihren Töchtern, heute bröselt sich dieses männliche Bild auf."

"Fußball war für uns eine Selbstverständlichkeit. Jedes Wochenende entweder zu Turnieren von Cousins oder sonst irgendein Fußballplatz in Wien. Es war mehr als nur eine Freizeitbeschäftigung", erinnert sich Suya. Die 29-Jährige ist Rapid-Fan. Mit Rufzeichen! Fußball ist in ihrer Familie seit jeher eine Konstante: "Ich habe selbst gespielt, meine Mama auch, mein Onkel auch." Zum ersten Mal hat sie der Vater mitgenommen: "Wir konnten dort Käsekrainer essen. Die gab es zu Hause nicht, weil wir kein Schweinefleisch essen." Als kleines Mädchen war sie eine Ausnahme: "Es war schon etwas Arges, mit meinem Papa auf den Fußballplatz zu gehen. In meinem Umfeld hat das sonst niemand gemacht."

Der Fanzyklus nahm seinen Lauf, über die Nordtribüne im ehemaligen Hanappi-Stadion kam sie auf die West, Rapids Fankurve. Seither leuchten die Augen der jungen Frau, wenn’s um die Grün-Weißen geht: "Ich wusste nach einer Sekunde, dass es keinen anderen Verein mehr für mich geben würde. In Wien kann man nicht so einfach Fußballfan sein, man muss sich entscheiden."

Es ist ein Dasein in einer männlichen Kultur, das für die Sozialarbeiterin keineswegs leicht ist: "Als Frau ist es nicht immer so easy, als Frau mit Migrationshintergrund schon gar nicht. Es ist aber auch eine Möglichkeit, nicht immer streng zu sein." Neben männlichen Bezugspersonen hilft ihr, dass ihre Mutter ebenfalls im Block steht. Und im Ethikrat von Rapid ist. Sie sei "ein Ankerpunkt". Man kennt und schätzt sie unter den Fans. Auch weil sie schon länger dabei ist.

Dass Suyas wenige Monate alter Sohn später einmal nicht in die Fußballwelt eintauchen könnte, ist für sie "nur schwer vorstellbar. Aber wenn er lieber Yoga macht, sei's drum." Einen Rapid-Strampler hat er schon, der Weg in den Fanzyklus ist geebnet. Und dann wäre es wohl fast ganz normal, dass die Mama den Bub auf den Platz mitnimmt. (Andreas Hagenauer, 12.12.2019)