Dieter Bohlen (rechts bei einem Konzert in Berlin 2019) mit notwendigem Gastsänger. Nennen wir ihn "Nora".

Foto: Michael Clemens/DEAG Concerts

Die Mutter soll jetzt bitte aufhören zu lesen: Manchmal, wenn wir früher in den 1980er-Jahren der Freizeitchemie zugesprochen haben und nicht schon wieder nachtaktive Musik mit singenden Ölfässern und kreischenden Gitarren hören wollten, habe ich mich in das Zimmer meiner kleinen Schwester geschlichen und mir ihre Platte von Modern Talking ausgeborgt. Dank Freizeitchemie beflügelt, handelt es sich beim Schaffen von Modern Talking um sehr gute Musik, die einen ständig lächeln macht. Sie hat nichts Böses im Sinn und beschwört mit Fistelstimme und kajalgetränktem Dackelblick die Liebe als bestimmende Kraft des Universums. Sie schaut aber auch darauf, dass man sich von seinen Gefühlen nicht überwältigen lässt, weil eine solide berufliche Ausbildung – Ja, warum denn nicht ein Handwerksberuf?! – nun einmal im Leben vorgeht. Wo er singt, da knie ruhig nieder. Bohlens Dieter? Geile Lieder!

Wahrscheinlich hätte das mit der Freude am Leben dank toxischer Herzerweiterung und seelischem Sonnenaufgang auch ohne Musik geklappt. Aber, hallo! Es gibt etwas in der menschlichen Natur, das uns extrem empfänglich für die einfachen Wahrheiten im Leben macht: "You're my heart, you're my soul, I keep it shining everywhere I go." G-Dur, a-Moll, d-moll. G-Dur, a-moll. Besser ist es bei Dieter Bohlen und Modern Talking in den 1980er-Jahren nie geworden. Achtung, Wuchtel: (Thomas) Anders schon gar nicht!

Der Poptitan aus Tötensen

Dieter Bohlen, der Poptitan aus Tötensen bei Hamburg, dürfte mit im Lauf seiner Karriere an die 120 Millionen verkauften Tonträgern der erfolgreichste deutsche Musiker aller Zeiten sein. Immerhin lässt er seit Thomas Anders und Modern Talking über Chris Norman von Smokie, den armen Errol Brown von Hot Chocolate, oder seinem Solounternehmen Blue System englisch singen. Das geht aktuell herauf bis zu diversen "Deutschland sucht den Superstar"-Lakaien. Die seit den Achtzigerjahren sensibel für die Rüscherldisco unserer Herzen und für Wet-T-Shirt-Contests beim Feuerwehrfest gefertigte Mischung aus Fistelstimme, Böllerschlagzeug, Paarreimdichtung in Basisenglisch und irgendwas Eingängigem mit einfachen Akkordabfolgen in Moll kommt international interessanterweise nicht nur bei den Russen an. Sie hinterlässt bis heute auch in weiten Teilen Asiens eine Spur der Verbohlung in den dortigen Karaoke-Bars.

Eugene Clark

Einen Österreich-Bezug und Ausflüge ins deutsche Paarreimfach hat das Schaffen Dieter Bohlens auch zu bieten: "Ich singe nur ein Lied heut' Nacht. Ein Lied, das uns zu Freunden macht. Ich singe nur ein Lied und weiß: Mit jedem Wort zerbricht das Eis". Thomas Forstner ging für unser schönes Heimatland mit Dieter Bohlens Komposition 1989 beim Song Contest ins Rennen. Er wurde damit erstaunlicherweise Fünfter. Tony Wegas schaffte das 1992 mit "Zusammen Geh'n" und dem zehnten Platz nicht ganz. Da hatte Dieter aber wahrscheinlich in seinem Hamburger Hitlabor einen schlechten Tag – oder eine Maschine am Montageband hat Zefix gemacht.

Der Gesang war live!

In der nur halb ausverkauften Wiener Stadthalle konnte Dieter Bohlen nun für den Eintrittspreis von umgerechnet nostalgischen eintausend Schilling (die Achtzigerjahre, oh, süßer Vogel Jugend!) trotzdem insgesamt 22 deutsche Nummer-eins-Hits bieten. Die eigentliche Sensation dabei: Dieter Bohlen hat live gesungen!

Immerhin besitzt das 65-jährige Testimonial der verheerenden Modemarke Camp David eine seltene Gabe: vor etwaigem Selbstzweifel bezüglich der eigenen Talente oder Fähigkeiten ist Dieter Bohlen vollständig gefeit. Der Mann, der im Fernsehen im Gesicht jünger geschminkt aussieht als live oben ohne, hat allerdings eine junge bärtige Nora mit schickem Männerdutt und Tattoos dabei. Sie hilft ihm, Anschluss an die musikalische Welt der Jugend zu finden. Dieter Bohlen in the house, yeah, yeah. Zur Not hilft Nora aber auch, bei den Refrains in extrem falsettierender Hochlage nicht abzustürzen. Wer Nora ist?! Lernt Geschichte, ihr Kaulquappen!

Der Saal geht durch die Decke

Hinter Dieter pumpt eine Liveband all die großen Hits. Gleich am Anfang nach dem programmatischen Betriebswirtschaftslehre-Studentenfestklassiker "You Can Win If You Want, If You Want You Can Win" rockt Dieter Bohlen die Halle mit "Geronimo's Cadillac": "Ein Lied nach einer wahren Begebenheit, ein Kumpel von mir hatte mal einen Cadillac." Natürlich folgen auch noch die "Midnight Lady" und der für Michael Schumacher geschriebene Vollgas-Evergreen "Win The Race".- Da geht die bestuhlte Halle erstmals durch die Decke. Mega!

Zum Höhepunkt der sehr tapfer als Frontmann ohne Scham und Reue hinter sich gebrachten Konzertsause werden dann die schweren Geschütze in Stellung gebracht: "Atlantis Is Calling, SOS For Love". "Cheri Cheri Lady". "Brother Louie". Und natürlich "You're My Heart, You're My Soul". Da wurde im Saal ein altes Herz wieder jung. a-Moll, was für ein megageiler Akkord! Dieter Bohlen ist der Beste. Ich erkläre das Achtziger-Revival hiermit für offiziell beendet. (Christian Schachinger, 7. 12. 2019)