Bild nicht mehr verfügbar.

Global äußerst erfolgreiches Aushängeschild von "kawaii": Hello Kitty.

Foto: AP/Jae C. Hong

Ganz Japan, scheint's, hat sich bedingungslos der Niedlichkeit – "kawaii" – verschrieben: Sogar das Mahnschreiben des Finanzamts, dessen Inhalt nun wirklich nicht "kawaii" ist, kommt nicht ohne ein süßes, den Ernst der Lage geradezu verharmlosendes Maskottchen daher. Das berichtet der Japan-Auskenner Andreas Neuenkirchen aus dem Alltag in Nippon. Seit Ende der 90er-Jahre schreibt er für deutsche und internationale Publikationen über japanische Gegenwartskultur. Er ist Autor mehrerer Sachbücher und Romane mit Japan-Bezug. Gemeinsam mit seiner Frau und seiner Tochter lebt er seit 2016 in Tokio.

Neuenkirchen geht sogar so weit zu behaupten, "kawaii" sei das wichtigste japanische Wort überhaupt. Ist es doch durchwegs positiv konnotiert und steht ebenso für "liebenswert", "charmant" und "wertvoll". Der Ausdruck beeinflusst eben nicht nur popkulturelle Phänomene wie Mode oder Musik, sondern auch Verkehrsschilder. Kurz: Man kommt im japanischen Alltag kaum daran vorbei.

Niedlichkeitswahn

"Kawaii", schreibt Neuenkirchen in seiner Analyse der Genese des Begriffs, ist überall, kennt keine Altersgrenzen und ist immer streng subjektiv. Jedenfalls leben ganze Industriezweige davon. In der westlichen Welt ist der wohl bekannteste Vertreter dieses Niedlichkeitswahns der Merchandise-Exportschlager Hello Kitty, dessen Werdegang und Weiterentwicklung der Autor viel Raum gibt.

Japans Faszination mit niedlichen Dingen wird mitunter auf einen Rückzug ins Infantile nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg zurückgeführt, reiche aber viel weiter zurück, hält der Autor fest: Denn schon seit dem 6. Jahrhundert werden zum Beispiel Bäume als Bonsais verniedlicht. All dies lässt sich möglicherweise mit der Harmoniesucht der Landeskultur erklären. Jedenfalls sei Niedlichkeit vor allem eines: Fassade.

Gegenbewegung

Blickt man hinter diese Fassade, tun sich allerdings Abgründe auf. In diese lässt Neuenkirchen den Leser blicken. So hat zum Beispiel die "neue Niedlichkeit", quasi die Gegenbewegung, ein Aushängeschild, das als böse Schwester von "Hello Kitty" durchgehen könnte: Aggretsuko – voller Name "Aggressive Retsuko". Eine Pandadame, die ihren Frust in Alkohol und Death Metal ertränkt und deren Chef im Büro ein Schwein ist – buchstäblich. Inzwischen hat diese populäre Gestalt eine eigene Netflix-Show. Laut Hersteller ist sie trotz ihres niedlichen Äußeren von einem inneren Zorn erfüllt. Diese neue Form der Niedlichkeit nennt sich "kimokawaii", kommt also in einer niedlicher Erscheinung daher, löst aber ein gewisses Gefühl des Unwohlseins aus.

Neuenkirchen bespricht in seinem Buch auch Bereiche, die er persönlich für abgründig hält, vor allem wenn es um die Verniedlichung von Gewalt geht, insbesondere sexuelle Gewalt. Vor allem mit der Kawaii-Kindchenschema-Ästhetik kommt man ganz schnell in ganz üble Bereiche. Er widmet sich diesen Abgründen aber weder sensationslüstern, noch denunziert er damit diese ganze Kultur.

Fazit: Mit viel Witz und Hintergrundwissen geschrieben hilft "Kawaii Mania", dieses urjapanische Phänomen und damit das ganze Land mit seiner komplexen Geschichte und seinen Abgründen besser zu verstehen. (Markus Böhm, 9.12.2019)