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Der äthiopische Premier Abiy Ahmed reiht sich in die Liste der Friedensnobelpreisträger ein.

Foto: Reuters / NTB Scanpix

Es war das zweite Mal in kaum drei Jahren, dass Murat Ismael seine Bäckerei verlor. "Sie kamen über diesen Hügel", sagt der 39-Jährige aus der zentraläthiopischen Provinzstadt Adama. Von Murats Bäckerei blieben lediglich die Bodenplatte und ein paar verkohlte Holzstücke übrig. "Mein zwölfjähriger Neffe kam ums Leben", fügt Murat hinzu. Die Bilder von der Beerdigung hat er auf seinem Handy.

Nobel Prize

Murat, der dem äthiopischen Mehrheitsvolk der Oromo angehört, erzählt fast beiläufig von dem Angriff Ende Oktober. Tatsächlich gehören Zusammenstöße zwischen Angehörigen verschiedener Ethnien in Äthiopien inzwischen zur Tagesordnung: Über drei Millionen Menschen haben in den vergangenen Jahren ihr Zuhause verloren. Murats erste Bäckerei ging in Jijiga, der Hauptstadt der Somali-Provinz, in Flammen auf. Dort versuchten militante Somali, sich ihrer oromischen Nachbarn zu entledigen. Umgekehrt vertrieben Oromo-Milizen im Süden des Landes innerhalb von 14 Tagen fast 800.000 Angehörige des Gedeo-Volkes.

Auszeichnung zu Unrecht

Die Äthiopier haben es laut Uno mit der größten Massenvertreibung der Welt zu tun. Dabei machte der Staat in jüngster Zeit ausnahmsweise einmal durch hoffnungsvolle Schlagzeilen auf sich aufmerksam. Nach seiner Ernennung im April 2018 ließ der neue Regierungschef Abiy Ahmed die bisher verbotenen Oppositionsparteien wieder zu und Zigtausende politischer Häftlinge frei. Außerdem beendete er den seit Jahrzehnten andauernden Kriegszustand mit dem Nachbarland Eritrea, wofür "Äthiopiens Gorbatschow" der Friedensnobelpreis zuerkannt wurde. Den wird er am Dienstag, in Oslo entgegennehmen. Zu Unrecht, brummt Murat missmutig.

Ausgerechnet Abiy Ahmeds Perestroika droht zum Totengräber des Vielvölkerstaats zu werden. In Afrikas einziger Nation, die nur für wenige Jahre kolonialisiert gewesen ist, leben über 80 Ethnien, das Land ist in zehn Regionen aufgeteilt, in denen der jeweils dominierenden Ethnie eine Art Autonomie eingeräumt wurde.

"Beispielloses Unrecht"

Doch die ethnische Aufteilung des Landes entwickelte eine Eigendynamik, die Äthiopien heute zu zerreißen droht. Die Oromer sehen sich als ewige Opfer der äthiopischen Geschichte: erst von den amharischen Kaisern und dann von der tigrisch gesteuerten Zentralregierung unterdrückt. "Ein beispielloses historisches Unrecht", schimpft Wadud Ibsa, dessen Oromische Volksbefreiungsfront (Olf) jahrzehntelang von Eritrea aus ziemlich erfolglos gegen den äthiopischen Militärapparat ankämpfte.

Sechs Qeeroos – nach den unverheirateten Oromo-Männern, die seit alters für die Verteidigung ihres Volks zuständig sind –, die nicht namentlich genannt werden wollen, sitzen auf der Veranda eines Hotels, das am Kraterrand des malerischen Bischoftu-Sees liegt. Drei der sechs lernten sich im berüchtigten Maekelawi-Gefängnis von Addis Abeba kennen. Dass die Anklagen gegen sie wegen Terrorismus nicht in lauter Todesstrafen mündeten, ist der Amnestie Abiy Ahmeds zu verdanken.

Öffnung wegen Widerstands

Von Dankbarkeit wollen sie trotzdem nichts wissen. Abiy Ahmed, der einen oromischen Vater und eine amharische Mutter hat, sei von der Äthiopischen Revolutionären Demokratischen Volksfront (EPRDF) nur deshalb zum ersten oromischen Regierungschef in der Geschichte des Landes bestellt worden, weil Äthiopien andernfalls im Chaos untergegangen wäre, sagt der älteste der jungen Männer: "Die politische Öffnung ist unserem Widerstand zu verdanken. Abiy Ahmed sucht von der alten Ordnung noch zu retten, was zu retten ist."

Vom "ethnischen Nationalismus", den sich die Qeeroos auf die Fahne geschrieben haben, hält Äthiopiens Gorbatschow tatsächlich nichts. Kürzlich verwandelte er seine Partei – die aus ethnisch definierten Organisationen zusammengesetzte EPRDF – in die unitäre "Wohlstandspartei". Ob er damit tatsächlich Äthiopien in einen demokratischen Staat verwandeln kann, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Auch unter den Amhara, Somali, Gedeo und Tigre haben sich längst nationalistische Organisationen mit bewaffneten Milizen gebildet. Sie treten für eine föderale Republik ein, deren Teile weitestgehende Autonomie – unter anderem auch eigene Streitkräfte – haben sollen.

Letzte Chance

Während die Qeeroos Abiy Ahmed Verrat an der Sache der Oromo vorwerfen, wird dem Nobelpreisträger von nationalistischen Vertretern anderer Volksgruppen unterstellt, insgeheim die Machtübernahme der Oromo zu betreiben. Dass seinem Personenschutz nur Angehörige der eigenen Ethnie angehörten, wird als Indiz dafür herangezogen. Wer den Premierminister etwas besser kennt, hält solche Beschuldigungen für absurd. Abiy Ahmed sei ein "aufrichtiger und seriöser Politiker", sagt Berhanu Nega, der selbst für die kommenden Wahlen 2020 kandidieren wird. Doch ob er sich gegen die zahllosen nationalistischen Provinzfürsten durchsetzen kann, wird sich erst noch herausstellen müssen. "Eine zweite Chance", ist Berhanu Nega überzeugt, "wird Äthiopien so schnell nicht wieder bekommen." (Johannes Dieterich, 10.12.2019)