Ein Moment der verliebten Unterwürfigkeit: Kate Lindsey (als schmachtender Orlando) und Agneta Eichenholz (als angebetete Sasha).

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Es geschah eines Morgens, dass Orlando erwachte und sich in eine Frau verwandelt sah. Bald wich Staunen der Klage über das Unpraktische seiner neuen Existenz. Das ewige Frisieren. Die lästigen Männer, denen Tee zu servieren war, und die Unmöglichkeit, als kreatives Wesen in dieser Gesellschaft des 17. Jahrhunderts Beachtung zu finden. Wie lästig, wie ärgerlich – wundert sich Orlando, obwohl sie schon als Jüngling reichlich Erlebnisse gesammelt hatte. Da war die Audienz des schwärmerischen Poeten bei Königin Elisabeth I., die ihn in ihrer machtvollen Hinfälligkeit reich beschenkte. Da war der Kältetod seiner Liaison mit Sasha, die ihn wegen eines Seemanns verließ.

Als junge Dame erwacht

Und schließlich der erste lange Schlaf: Aus ihm erwacht Orlando und beschließt, ein letztlich enttäuschter Dichter zu werden. So zieht es ihn alsbald in ferne Lande, wo er Krieg und Gewalt erlebt, um wieder in tiefen Schlummer zu versinken, aus dem er also unter subtil-düsteren Orchesterklängen als junge Dame erwacht.

Zu diesem Zeitpunkt war an der Wiener Staatsoper bei dieser Uraufführung musikalisch längst allerlei ambivalente Klangpracht zu erleben: Anklänge an Henry Purcells Cold Song wie auch uneindeutige barocke Elemente durchwehten die Geschichte, die Komponistin Olga Neuwirth auf Basis des Romans von Virginia Woolf erdacht hatte (das Libretto schrieb sie mit Catherine Filloux). Auch simulierte Cembalo-Gesten prallen im ersten Teil auf eine orchestrale Architektur, die schillernde harmonische Ambivalenz mit betörender Klangaura verbindet.

Reichlich Raum

Im Grunde erschafft Neuwirth hier einen Stilkosmos der musikalischen Parallelsphären, die aufeinanderprallen, sich übermalen und bisweilen eine komplexe Simultaneität erzeugen. Da die Geschichte nicht – wie bei Woolf – 1928 endet, ist reichlich Gelegenheit für Stilumfärbungen: Auf dieser Reise durch die Jahrhunderte schimmert orchestrale Spätromantik ebenso durch wie komplexe rhythmische Repetitorik. Das Herbeiassoziieren von Musikhistorie lässt Offenbachs Cancanebenso aufleuchten wie Bella ciao, das Lied des italienischen Widerstands gegen den Faschismus. O Tannenbaum und das Kirchenlied Danke für diesen guten Morgen sind ebenfalls mit im Angebot wie auch Walzerklänge, Flower-Power-Riffs, Rock und vertrackter Punk, Jazz und Funk, worum sich eine auf die Bühne geschobene kleine Band bemüht, die Orchesterklänge umkreisen.

Verdichtete kreative Unruhe

Zu einer billigen Folge von "Erkennen Sie Melodie und Stil?" schrumpft hier aber nichts. Es vollzieht sich ein origineller postmoderner Tanz zwischen Historie und Gegenwart. Besonders intensiv geraten die wenig stilverliebten orchestralen Zwischenspiele. Sie muten in ihrer Konzentration wie verdichtete kreative Unruhe an. Selbige Kompaktheit wäre dem Werk als Ganzes zu wünschen gewesen, das Regisseurin Polly Graham (bei Einzelfiguren) subtil inszeniert, während der gute Chor in der Rolle des Beobachters belassen wird.

Die Story, eine Art humanistische Befreiungsoper mit eingebautem Plädoyer für Individualismus abseits der Geschlechternormen, wandert allerdings nicht nur vom Thema Kindermissbrauch zum Ersten Weltkrieg und weiter zum Holocaust (eindringlich die Projektion zahlloser Namen Ermordeter) bis hin zum Atombombenabwurf. Als wollte ein engagiertes Künstlerinnenherz durch Dokumentation von Katastrophen und aktuellen Gefahrenherden die Welt retten und warnen, überfrachtet es die Werkform. Dessen Tektonik beginn im letzten Dritten denn auch zu ächzen.

Gesprengte Form

Intensive Bilder, befördert durch eine Videokunst, die zwischen Konkretion und einer Abstraktheit changiert, die an die Matrix-Filmtrilogie erinnert (Will Duke), lässt einzelne Szenen in Verbindung mit der eigenwillig schillernden Musik delikat strahlen. Und ob die phänomenale Kate Lindsey (als Orlando) oder Constance Hauman (u. a. als Königin); ob Anna Clementi (als eindringlicher Narrator) oder Justin Vivian Bond (als imposant angeraute Stimme von Orlandos Kind): Sie schaffen – wie auch Leigh Melrose (u. a. als Green) und Eric Jurenas (als Guardian Angel) – hochkarätige Momente. Zu einem durchgehend konzentrierten Ganzen vermögen auch sie nicht zu verhelfen – wie auch nicht die opulent ausufernden Kostüme von Rei Kawakubo. Das Werk sprengt nicht nur das Format einer obligaten Oper (danke dafür!). Es sprengt auch seine eigene Gestalt und wirkt zum Finale hin wie eine oratoriale Multimediainstallation mit Nummernrevuecharakter.

Zwischen Bravos und Buhs

Da wird eben sehr viel hineingepackt: eine Fistelstimmenverulkung Trump’scher Rhetorik, auch Verweise auf nationale Egoismen und schließlich ein Kinderchor, der den Planeten in Gefahr sieht und mit "Alles muss sich heute ändern" im Sinne von Greta Thunberg mahnt. All dies – zusammen mit einer Warnung vor der politisch Allzurechten – befördert den Eindruck von Überfülle an essenziellen Botschaften. Über allem strahlen immerhin die vielen subtilen Musikmomente, die auch von einer Glanzleistung des Orchesters unter dem kundigen Dirigenten Matthias Pintscher lebten.

Das Publikum zollte den Darstellern Respekt. Bei Neuwirth, die aus dem Übervollen schöpfte, gab es Bravos und einige um mehr als einen Viertelton verstimmte, erschöpfte Buhs. (Ljubiša Tošic, 10.12.2019)