Im Gastkommentar meldet sich Handke-Biograf Malte Herwig zu Wort. Er sagt: "Schuldig spricht er sich selbst oft genug." Lesen Sie dazu auch Debattenbeiträge von Leopold Federmair, Wolfgang Müller-Funk, Vahidin Preljević, Barbi Marković und Marko Dinić.

"Behältst du den Frack eigentlich?", fragte ich Peter Handke, als wir uns vor ein paar Wochen in Paris trafen. "Um Gottes willen, dann könnte ich mich ja gleich in den Sarg legen damit." Die Nachricht aus Stockholm war erst ein paar Wochen alt, die Debatte bereits in vollem Gang, und der Preisträger noch dabei herauszufinden, wie es sich anfühlt, den wichtigsten Literaturpreis der Welt nicht nur zu bekommen, sondern ihn auch zu tragen.

Manche Autoren verfluchten den Nobelpreis, nachdem sie ihn bekommen hatten. Andere brachten danach kein bedeutendes Werk mehr zustande und verstummten. Für Handke ist es ein Wechselbad der Gefühle. "Freude ist es nicht", sagte er nachdenklich, "es ist keine Freude." Er überlegte einen Moment und sagte dann: "Es ist eine Art von Frieden, trotz allem."

"Friede ist möglich" – Peter Handke, der Literaturnobelpreisträger 2019, löst wegen seiner Haltung und Texte zu Jugoslawien heftige Kontroversen aus.
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Schwarz-Weiß-Debatte

Trotz allem? Handke steht seit Wochen im Zentrum einer wütenden Debatte. Es ist gut und richtig, über seine Positionen und sein Werk zu streiten. Doch inzwischen kommt man sich vor wie in einem alten Schwarz-Weiß-Western aus den Vierzigerjahren: Auf der einen Seite die Helden mit weißen, auf der anderen die Schurken mit schwarzen Hüten. Die Nuancen, die Grauschattierungen fehlen. Vielen fehlt offensichtlich auch die Geduld, die Welt und das Werk differenziert und offen zu sehen, anstatt nur nach Belegen für eine bereits vorgefasste Meinung zu suchen.

Es gibt einen Unterschied zwischen Kritik und Hetze. Ich wende mich gegen Letztere. Hetze bedeutet, einen Menschen zu diffamieren, ihn komplett unmöglich machen zu wollen. Der Mensch Peter Handke wurde als "Müll" diffamiert, als Antisemit, Schwulenhasser, Genozidbefürworter, Diktatorenfreund, Faschist, Rechtsradikaler und Krimineller (das ist nur eine kleine Auswahl).

Schmerz und Freuden

Wie hält man das aus? Handke zog eines seiner kleinen Notizbücher aus der Manteltasche hervor und zeigte mir einen Vers, den er gerade erst in griechischen Buchstaben hineingeschrieben hatte. Er stammt aus den "Olympischen Oden" von Pindar und lautet: "Weggescheucht durch die Freuden stirbt der Schmerz". Vielleicht sind 2500 Jahre alte Verse in Zeiten von Twitter-Shitstorms gar kein so schlechtes Mittel.

Wir saßen in Handkes Haus in Chaville, einem unscheinbaren Vorort von Paris. Eine riesige Hecke umgibt das alte Jagdhaus wie ein Burggraben, der die Innen- von der Außenwelt trennt. Ich bin immer mal wieder dort gewesen, seit ich meine Biografie über Handke geschrieben habe. Aber seit dem letzten Mal sind nicht nur die Bücherstapel in allen Ecken des Hauses gewachsen. Es hat sich noch mehr verändert. Handke hat aufgerüstet und wie zur Abschreckung ein halbes Dutzend Wildschweinzähne an seine Haustür geklebt.

Wut, nicht Ärger

Schon am Tag der Verkündung fiel die Weltpresse in sein beschauliche "Niemandsbucht" ein. Seitdem pilgerten fast täglich Journalisten dorthin, doch nicht alle Besuche endeten friedlich. Am Vortag meines Besuchs hatte er einen österreichischen Reporter hinausgeworfen, als der nach einer Stunde harmloser Fragerei doch noch auf Serbien zu sprechen kam. Handke war immer noch aufgebracht. Ein Missbrauch der Gastfreundschaft sei das. Er habe den Mann wortlos rausgebracht und dann das Tor zugeknallt. "Beinah hätte ich ihm eine runtergehauen."

Als sein Biograf weiß ich von Handkes angeborenem Jähzorn, den er von seinem Großvater geerbt hat. Ob Bruno Ganz, Hubert Burda oder Peter Stephan Jungk, seine engsten Freunde berichteten mir von Wutausbrüchen Handkes, die ihnen noch Jahrzehnte später nachgingen. Einmal verprügelte er einen Journalisten der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Ein andermal rempelte er den Philosophen Jürgen Habermas an, weil der zu Handkes Empörung behauptete, den Beatles-Song "Yellow Submarine" nicht zu kennen.

Ich bin selbst Journalist und erinnerte Handke daran, dass es zu unserem Beruf gehört, auch unangenehme Fragen zu stellen (wie und mit welchem Erfolg ist allerdings eine Frage des eigenen Könnens). Es werde ihm nicht helfen, wenn er sich ärgert. Handke schaute mich streng an: "Das Wort ‚ärgern‘ kann ich nicht ausstehen. Ich ärgere mich nicht – ich kriege eine Wut! Das ist ein Unterschied!" "Aber du schadest dir damit selbst", hielt ich dagegen. Er blieb unbeeindruckt: "Na Gott, ein bissl schaden ist nicht schlecht. Bin ja kein Engel oder so ein Scheißdreck."

Von Sündern und Verirrten lernen

Ich habe mich noch nie für Engel interessiert. Heiligengeschichten finde ich langweilig und verlogen. Ich würde nie die Biografie eines Heiligen schreiben (mit Ausnahme vielleicht von Augustinus, der Probleme mit dem Keuschheitsgebot hatte). Die Geschichten von Sündern und Verirrten dagegen sind viel lehrreicher, menschlicher. Man kann von ihnen lernen, vor allem dies: dass man nie aufhört, sich selber zu befragen.

Das weiß auch Handke, und schuldig spricht er sich selbst oft genug. Der schärfste Kritiker von Peter Handke ist Peter Handke. "Der Kampf gegen mich selber ist der große Kampf", sagte er mir einmal und fügte hinzu, er hasse seine Meinungen. Diese Widersprüchlichkeit ist die Quelle seines Schaffens.

Ich glaube deshalb auch nicht an die Trennung von Werk und Autor. In der Biografie habe ich beide mit ihren Höhen und Tiefen beschrieben. Man kann Handke nur ganz haben oder gar nicht. Auch die Jugoslawien-Texte sind Teil seines Lebenswerks, mit allen Irrwegen und Einsichten. Deshalb sind sie zu Recht Gegenstand der Kritik.

Nicht von vornherein im Recht

Den Publikumsbeschimpfungen und Wutausbrüchen aber stehen die Worte der Nova aus "Über die Dörfer" gegenüber, die Handke in seiner Nobelpreisrede erneut zitiert, nein, rezitiert hat: "Der ewige Friede ist möglich." Man konnte das auch als eine Art Friedensangebot verstehen, wenn man sich nicht von vornherein zu einer bösartigen Lesart jeder Äußerung Handkes entschlossen hatte. Noch ein anderer Satz darin: "Beweg dich in deinen Eigenfarben, bis du im Recht bist und das Rauschen der Blätter süß wird." Das lyrische Ich bekennt sich zur eigenen Besonderheit, weiß aber gleichzeitig, dass es nicht von vornherein im Recht ist. Bewegung ist möglich, auch bei Handke. Warten wir ab, was noch von ihm kommen wird.

Schaut man sich die Liste der Literaturnobelpreisträger der letzten 100 Jahre an, dann ist klar, dass eben die Autoren noch heute gelesen werden, die den Preis aufgrund ihrer literarischen Qualität bekommen haben. Den Menschen können wir ertragen oder nicht. Im Übrigen halte ich es mit Elfriede Jelinek: Als Künstler hat Handke den Nobelpreis zehnmal verdient. Er wird bleiben. (Malte Herwig, 10.12.2019)