"Wann empfindet man Freiheit?", fragte Lena, die Frau ohne Eigenschaften, ihre Freundin Anna. Sie kannten einander von früher aus der Musikschule.

Als Anna nicht antwortete, setzte Lena fort: "Ich habe jetzt schon so viele Leute gefragt, wie das mit der Freiheit ist. Niemand konnte mir eine gute Antwort geben. Dann habe ich zum Recherchieren begonnen: Astrid Lindgren schnitt sich zum Beispiel in den 30ern die Haare ab und radelte mit ihrer neuen Bobbyfrisur über die Feldwege. Das war ein Befreiungsschlag für sie. Und Hazel Brugger konnte mir nur sagen, wann sie sich eindeutig nicht frei fühlt."

Anna wirkte wenig interessiert. Sie war gerade damit beschäftigt, ihr Getränk ins beste Licht zu rücken, um davon ein Foto zu machen.

"Jetzt hör mir doch einmal zu, Anna! Also … Hazel Brugger erzählte mir von einem Frauenarztbesuch. Als sie aufgefordert wurde, sich frei zu machen, hätte sie überhaupt keine Freiheit empfunden", sagte Lena und fasste Anna am Arm.

Anna nickte und lächelte.

"Also, Anna, wann fühlst du dich frei?", fragte Lena.

"Eigentlich fühle ich mich frei, seitdem ich mein eigenes Geld verdiene und nicht mehr von den Eltern abhängig bin, würde ich sagen", meinte Anna und schlürfte an ihrem Kurkuma-Latte.

"Aber das ist doch eine trügerische Freiheit!", erwiderte Lena gereizt.

"Wieso? Wie meinst du das?", fragte Anna.

Lena erklärte: "Wenn du sagst, dass du dich frei fühlst, seit du dein eigenes Geld verdienst, heißt das für dich, dass Geld frei macht? Das halte ich für einen absoluten Betrug! Warum macht ein Job frei? Das verstehe ich nicht. Ist das nicht auch eine Form von Abhängigkeit?"

Anna überlegte, sagte aber nichts.

"Weißt du, das einzige Mal, als ich mich in meinem Leben so richtig frei gefühlt habe, war in der Mitte meines Studiums", setzte Lena fort. "Und da habe ich kaum Geld gehabt. Die ersten langweiligen Prüfungen hatte ich hinter mir. Ich konnte frei wählen, welche Seminare ich besuchen möchte und es gab keinen Druck und keine Eile, mein Studium abzuschließen. Ich konnte mich mit Inhalten beschäftigen, mich ganz in meine Arbeit vertiefen und kreativ sein. Heute erfahre ich überhaupt nur noch im kreativen Prozess ein Gefühl von Freiheit."

Schneetrugschluss.
Foto: Ruth Höpler

"Ok und im Alltag fühlst du dich nicht frei? Warum?", fragte Anna

"Ja, weil mich immerzu diese trügerische Freiheit verfolgt. Und ich sage dir, von der wirst du auch verfolgt! Du merkst es nur nicht!"

"Was redest du?", fragte Anna irritiert.

Lena nahm die Körperhaltung einer alten Frau ein, bauschte sich wie ein Kauz auf, verstellte ihre Stimme und krächzte: "Die trügerische Freiheit sagt, ich solle zu ihr kommen. Ich könne tun und lassen, was ich will und werde dafür bezahlt, solange ich meine Zeit, meinen Willen und meine ganze Energie zur Verfügung stelle. Und in meiner Freizeit dürfe ich mir dann mit dem Geld kaufen, was ich will oder mich vergnügen."

"Haha, wie kommst du denn auf so etwas?", lachte Anna amüsiert, die sich sichtlich gerne auf das Gedankenspiel einließ.

"In der Freizeit können wir dann blöd ins Kastl schauen, unseren Body stylen, und uns das Superfood reinhauen, uns Tuchmasken aufs Gesicht legen und vorbildlich beim Yoga ein- und ausatmen", setzte Lena fort.

"Ach, Lena!", seufzte Anna. "So schlimm ist das doch alles gar nicht!"

"Wenn du wüsstest!" erwiderte Lena. "Weißt du, was diese Freiheit noch sagt? Sie flüstert: Komm zu mir! Besuch mich auf Instagram, YouTube und Netflix, betrachte mich, wie ich dir tagtäglich weismache, wie aufregend und hip unser Leben doch ist!"

"Du bist so ein verrücktes Hendl!", kicherte Anna.

"Sie sagt auch: Pack deine Weihnachtsgeschenke in Cellophan ein. Das knistert so schön und tut niemandem weh. Du könntest zwar auch in den Wald gehen und auf Eichenblätter steigen, dann raschelt es auch, aber Natur ist zu Weihnachten mega uncool", giggelte Lena. "Du kannst auch die Bio-Banane verschmähen und nicht an die Klimakrise glauben! Das ist Freiheit! Das ist deine Freiheit! Wir sind alle frei."

Nachdem sie ausgetrunken hatten, bezahlten sie, wünschten sich "Frohe Weihnachten" und gingen getrennte Wege. (Katharina Ingrid Godler, 12.12.2019)

Fingerzeig

  • Im Film "Astrid" (2018) über das Leben von Astrid Lindgren kommt eine Szene vor, in der die junge Astrid – von Alba August gespielt – zum Frisör geht, sich die Haare abschneidet. Danach fährt sie mit ihrem Rad über die Felder nach Hause – mit einem unfassbar charmanten Lächeln im Gesicht. Regie führte Pernille Fischer Christensen.
  • Kabarettistin Hazel Brugger erzählt in ihrem neuen Programm "Tropical" über ihren Besuch beim Gynäkologen. Eine Geschichte über einen Kauz ist auch Teil des Programms.

Weitere Beiträge im Blog