Mit Carl Menger hat alles begonnen: der US-Historiker Janek Wasserman im Arkadenhof der Uni Wien mit Blick auf die Gedenktafel, die dem Gründervater der einflussreichen Ökonomenschule gewidmet ist.
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Der renommierte linke Ökonom John Kenneth Galbraith soll Bruno Kreisky einmal gefragt haben, was seiner Meinung nach der Grund sei, warum Österreich wirtschaftlich so gut dastehe. Die überlieferte Antwort des sozialdemokratischen Bundeskanzlers: "Das liegt daran, dass wir dem Export so viel Beachtung beimessen. Wir haben ja sogar unsere Ökonomen exportiert!" Die Anekdote ist fast zu gut, um wahr zu sein, sind in ihr gleich zwei Tatsachen mit etwas Sarkasmus verpackt.

Zum einen verließen die wichtigsten heimischen Ökonomen des 20. Jahrhunderts – die Vertreter der "Österreichischen Schule" – in den 1930er-Jahren mehr oder weniger freiwillig das Land. Und zum anderen vertrat man hierzulande nach 1945 das Gegenprogramm zu den Konzepten von Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek und Kollegen: Setzten diese auf eine entfesselte freie Marktwirtschaft, fuhr man in Österreich mit dem Keynesianismus, der auf einen starken Staat und Nachfrageorientierung setzte, lange Zeit ziemlich gut.

Posthumer Amazon-Bestseller

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989, aber auch in den letzten Jahren feierten die "Austrians" – so die Kurzbezeichnung der Vertreter der Österreichischen Schule in den USA – aber einige erstaunliche Erfolge, wie der US-amerikanische Historiker Janek Wasserman erzählt: Nach einer Empfehlung in Fox News etwa führte Hayeks antisozialistische Abrechnung "The Road to Serfdom" (Original 1944, deutsch: Der Weg zur Knechtschaft) im Juni 2010 mit 100.000 verkauften Exemplaren die Buchbestsellerliste von Amazon an.

Ein ebenfalls 2010 auf Youtube veröffentlichter Rap-Battle zwischen Hayek und Keynes, bei dem Hayek das bessere Ende für sich hat, hält mittlerweile bei knapp sieben Millionen Zugriffen. Die Fortsetzung wurde auch schon fast fünf Millionen Mal angeklickt.

Emergent Order

Der Trend setzte sich in der Politik fort: Der republikanische Politiker Paul Ryan, der 2012 immerhin als Vizepräsidentschaftskandidat seine Partei aufgestellt wurde, hat damals allen seinen Kampagnenmitarbeitern "The Road to Serfdom" geschenkt. Und sein Parteikollege Ron Paul, der sich 2012 ebenfalls um die republikanische Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen bemühte, erklärte während seines Wahlkampfs gar: "We are all Austrians now."

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Auch bei der letzten großen Convention der Republikaner im Jahr 2018 standen T-Shirts mit Von-Hayek-Motiven mehr oder weniger hoch im Kurs. Rechts neben ihm Milton Friedman, Hayeks neoliberaler Mitstreiter.
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Spätestens zu diesem Zeitpunkt wollte sich Janek Wasserman, der an der University of Alabama Ideengeschichte lehrt und vergangene Woche für einen Vortrag an der Wirtschaftsuniversität (WU) in Wien war, sich eingehender mit der Österreichischen Schule und ihrer Geschichte befassen. Der Historiker war für dieses Projekt gut vorbereitet: Er hatte damals gerade seine Dissertation über "Black Vienna" fertiggestellt, in der er sich eingehend mit den rechtskonservativen Gegenkräften zum Roten Wien der Zwischenkriegszeit befasste und die auch als Buch – bis jetzt leider nur auf Englisch – erschienen ist.

Die Ökonomen in der Zwischenkriegszeit

Auch die damals wichtigsten Vertreter der sogenannten Österreichischen Schule – insbesondere von Mises und von Hayek, die aus großbürgerlichen Familien stammten – standen dem linken Wiener Projekt höchst kritisch gegenüber, so Wasserman: "Von Mises war etwa enger wirtschaftspolitischer Berater des damaligen christlichsozialen Bundeskanzlers Ignaz Seipel und unterstützte dessen damalige Sparpolitik." Ganz so eindeutig seien die Fronten damals aber nicht in jedem Fall gewesen, ergänzt Wasserman mit Verweis auf Joseph Schumpeter, der 1919 – wenn auch nur kurz – Staatssekretär einer vom Sozialdemokraten Karl Renner angeführten Regierung war.

Mit Schumpeter, der mit seiner Innovationstheorie und dem Begriff der "schöpferischen Zerstörung" posthum zu einem Propheten im kalifornischen Silicon Valley wurde, stellt sich freilich auch die Frage, welche Ökonomen überhaupt zur Österreichischen Schule zu zählen sind und welche nicht. "Das hat sich über die Jahre immer wieder ein wenig verändert", sagt Wasserman mit Verweis auf verschiedene Abhandlungen über diese Denktradition, die von ihren Protagonisten selbst im Laufe der Jahrzehnte verfasst wurden.

Netzwerke der "Österreicher"

Wassermans eigene Version dieser Geschichte erschien vor wenigen Wochen unter dem Titel "The Marginal Revolutionaries" als Buch. Seine umfassende und ausgewogene Darstellung, der eine deutsche Übersetzung zu wünschen ist, hat nicht nur den Vorteil, dass sie den Bogen von der Gründung in den 1870er-Jahren bis in die unmittelbare Gegenwart spannt. Sie rekonstruiert auf Basis umfangreicher archivalischer Recherchen zudem die Netzwerke der "Österreicher" und ihre jeweiligen gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Umfelder.

Janek Wasserman
The Marginal Revolutionaries

How Austrian Economists Fought the War of Ideas
Yale University Press, New Haven / London 2019
354 Seiten, 31,50 Euro
Auf dem Cover (im Uhrzeigersinn, beginnend rechts oben): Joseph Schumpeter, Carl Menger, Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek

Der Buchtitel geht dabei zum einen auf den Gründervater Carl Menger zurück, den Protagonisten der sogenannten Grenznutzenschule, die für die "marginalistische Revolution" verantwortlich war. Menger, der zunächst als Journalist arbeitete, vertrat – in aller Kürze – die Auffassung, dass der Wert einer Sache etwas fundamental Subjektives ist, das sich von Individuum zu Individuum unterscheidet, was wiederum der marxistischen Arbeitswerttheorie diametral gegenübersteht.

Stets mehr als nur Ökonomie

Der Titel spielt aber auch noch auf eine zweite Bedeutung an: "Diese Ökonomen waren selbst oftmals wissenschaftliche Außenseiter", so Wasserman, "sie schafften es dennoch immer wieder, großen Einfluss zu gewinnen." Dabei seien ihnen vor allem zwei Eigenschaften zugutegekommen: "Sie waren gut im Netzwerken und beim Gründen von eigenen Institutionen", sagt Wasserman, "und sie waren nie nur reine Ökonomen, was ja auch laut Hayeks berühmtem Zitat die Bedingung dafür sei, ein guter Ökonom zu sein."

Das Gründen eigener Institutionen und Netzwerke begann bereits im Wien der Zwischenkriegszeit, zunächst in Form von losen Diskussionszirkeln wie dem sogenannten Geist-Kreis. Da kaum Aussicht auf eine Professur an der Uni Wien bestand, errichteten die Ökonomen 1927 mit Geldern der US-amerikanischen Rockefeller-Stiftung ihr eigenes Institut für Konjunkturforschung, aus dem nach dem Zweiten Weltkrieg das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo) wurde.

Das Gründertalent der österreichischen Verfechter der Marktwirtschaft, zu denen in dritter Schülergeneration neben von Hayek unter anderem noch Gottfried Haberler, Fritz Machlup und Oskar Morgenstern gehörten, zeigte sich dann insbesondere nach 1945. Beispielhaft dafür war die 1947 ins Leben gerufene Mont Pèlerin Society. Dieser Zusammenschluss von Akademikern, Geschäftsleuten und Journalisten verfolgt bis heute das Ziel, für radikal wirtschaftsliberale Ideen Lobbying zu betreiben.

Neoliberale Knotenpunkte

Die Mont Pèlerin Society wurde so insbesondere in den USA zu einem zentralen Knotenpunkt neoliberaler Netzwerke und Vorbild zahlreicher, zum Teil extrem rechter Thinktanks wie des Cato Institute, die in Wassermans Augen völlig ideologisierte Versionen der Österreichischen Schule vertreten. Solche Denkfabriken in kleinem Maßstab gibt es auch hierzulande wie etwa das von der FPÖ-nahen Ökonomin Barbara Kolm geleitete Friedrich-A.-von-Hayek-Institut. Die deutsche Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft wiederum ist in den letzten Jahren von AfD-Politikern unterwandert worden.

Wasserman selbst, der es als Linker für wichtig hält, die Wurzeln des heutigen Neoliberalismus nüchtern und ohne Rückgriff auf irgendwelche Verschwörungstheorien zu analysieren, hat seit Erscheinen seines Buchs bereits einige Einladungen von solchen US-amerikanischen Thinktanks erhalten. "Die wurden aber schnell wieder zurückgezogen, als ich klarmachte, dass ich keine einzige ihrer Positionen teile." (Klaus Taschwer, 13.12.2019)