Philosophin Lisz Hirn pocht auf ein Pflichtfach Ethik für alle.

Foto: Heribert Corn

Was in Österreich seit 22 Jahren als Schulversuch läuft, wollten ÖVP und FPÖ ab Herbst 2020 in einem ersten Schritt an den AHS fix installieren: Ethikunterricht – aber nur für die Schülerinnen und Schüler in der 9. Schulstufe, die keinen Religionsunterricht besuchen. Die türkis-blaue Regierung war Geschichte, noch ehe sie ein Gesetz vorlegen konnte. Und so liegt es jetzt an ÖVP und Grünen, Ethik in der Schule zu verankern. Ob und wie, ist offen. Die Initiatoren des laufenden Volksbegehrens "Ethik für alle" sehen eine Chance auf ein vom Religionsunterricht entkoppeltes Fach Ethik.

Mitinitiatorin und Philosophin Lisz Hirn wird am Mittwoch (11. Dezember, 17 Uhr, NIG, Hörsaal 3D) im Rahmen der von Konrad Paul Liessmann, Niklas Gyalpo, Bernadette Reisinger und Elisabeth Widmer in Kooperation mit dem STANDARD organisierten Vortragsreihe "Fachdidaktik kontrovers" zum Thema "Unzeitgemäße Schulstunden: Vom Nutzen und Nachteil des Ethikunterrichts für das Leben" referieren. Hier erklärt sie, warum Österreich Ethikunterricht für alle Schülerinnen und Schüler braucht.

STANDARD: In welcher Form soll Ethikunterricht eingeführt werden?

Hirn: Verpflichtend in jeder Schule mit Öffentlichkeitsrecht für alle Schülerinnen und Schüler ab der ersten und bis zur 12./13. Schulstufe – ungeachtet ihrer konfessionellen Zugehörigkeit.

STANDARD: Warum brauchen wir Ethikunterricht für alle – und nicht nur für diejenigen, die keine religiöse Glaubensunterweisung wollen?

Hirn: Ethikunterricht ist nicht dafür da, Gebote und Verbote zu vermitteln, wie es Religionsgemeinschaften als ihre Aufgabe sehen. Es geht unter anderem darum, gemeinsam Problemstellungen und mögliche Antworten darauf zu erarbeiten, bloße Meinungen von gut fundierten Argumenten unterscheiden zu lernen und letztendlich zu fragen, wie wir alle zusammenleben wollen und können. Deshalb Ethik für alle: Über diese Fragen sollte nicht jede Gruppe – katholisch, protestantisch, muslimisch, nichtreligiös … – separiert voneinander einen Diskurs führen, sondern gemeinsam. Wie sollen wir denn sonst zu tragfähigen Lösungen kommen?

STANDARD: Was kann oder soll so ein Ethikunterricht leisten?

Hirn: Er soll eine Brücke von der Theorie zur Praxis bauen. Wie tragfähig die ist, zeigt sich spätestens dann, wenn die Schule aus ist.

STANDARD: Und was darf ein solches Schulfach Ethik auf keinen Fall machen?

Hirn: Sich von Politik, Religion und Wirtschaft oder anderen großen Interessengruppen vereinnahmen lassen.

STANDARD: Wie erklären Sie sich die Angst vor einem Ethikunterricht für alle Schülerinnen und Schüler?

Hirn: Keiner gibt gerne freiwillig Privilegien auf. Schon gar nicht Religionsgemeinschaften oder Kirchen. Da geht es auch um Macht und Geld. Eine andere Sache ist die Angst, der Staat könnte nun einen staatlichen Werteunterricht verordnen. An dieser Angst zeigt sich auch schön die Doppelmoral: Wir haben nämlich längst staatliche Wertekurse, allerdings für Asyl- und subsidiär Schutzberechtigte sowie zum Verfahren zugelassene Asylwerber/innen. An diesem Beispiel zeigt sich schön die Doppelmoral.

STANDARD: Ein Pflichtfach Ethik für alle wäre nicht nur für die Religionslehrer eine heikle Konkurrenz. Was würde es für den Philosophieunterricht im Rahmen des Fachs "Psychologie und Philosophie" (PP) bedeuten? Es könnte ja sein, dass dann die Idee auftaucht, Philosophie brauchen wir nicht mehr. Es geht ja auch immer um Kosten.

Hirn: Ethik ist eine Disziplin der Philosophie und bildet bei weitem nicht alle Fragen ab, die Themen in der Philosophie sind. Insofern sehe ich da überhaupt keine Konkurrenz, im Gegenteil. Ich sehe eine zusätzliche Chance für PP- oder Philosophiestudierende, einen qualitativ hochwertigen und nachhaltigen Unterricht zu gestalten. Und bezüglich Kosten: Können wir es uns leisten, in Anbetracht der Herausforderungen von Digitalisierung, #MeToo-Debatte, Klimakrise, Migration und Ähnlichem auf diesen Unterricht weiter zu verzichten?

STANDARD: Ethikunterricht wird ja oft als "Erziehung zum Guten" missverstanden mit dem impliziten Vorwurf, dass damit der jeweils aktuelle Stand der Political Correctness in die Schule eingespeist wird und Kindern dann eben Glaubensinhalte anderer Art vermittelt werden. Was halten Sie dem entgegen?

Hirn: Alle anderen Fächer, die bereits in der Schule unterrichtet werden, orientieren sich nach wissenschaftlichen Richtlinien und Kriterien. Einzig der Religionsunterricht bietet eine Ausnahme, denn hier qualifiziert man sich für eine gute Note, wenn man einfach an etwas "glaubt". Die Schule sollte aber nicht da sein, um den Glauben zu stärken, sondern um Basiswissen zu erlernen und die Kritikfähigkeit und Urteilskraft zu stärken.

STANDARD: Sie referieren an der Uni Wien zum Thema "Unzeitgemäße Schulstunden: Vom Nutzen und Nachteil des Ethikunterrichts für das Leben". Was ist das "Unzeitgemäße"?

Hirn: Wir leben in einer Zeit, die stark vom Nützlichkeitsgedanken geprägt und von Optimierungsstreben diktiert wird. Die Forderung geht immer stärker in die Richtung, dass die Schülerinnen und Schüler perfekt vorbereitet für den aktuellen Arbeitsmarkt aus der Schule kommen sollen. Ein Unterricht, in dem Innehalten und kritisch zu fragen, was wir da eigentlich machen und ob wir das so wollen, erscheint mir da äußert unzeitgemäß und ungeheuer notwendig zu sein.

STANDARD: Und kompakt formuliert: Was ist der Nutzen und was der Nachteil von Ethikunterricht?

Hirn: Er kann beispielsweise Toleranzübung, Radikalisierungsprophylaxe oder Extremismusprävention sein und den Schülerinnen und Schülern ein gewisses Maß an Selbsterkenntnis und -kritik bringen. Zum Trost oder als Motivation kann er allerdings nicht versprechen, dass es irgendwann eine Belohnung geben wird. (Lisa Nimmervoll, 10.12.2019)