Auch heuer gedachten Indonesier der Opfer der Terroranschläge in Bali, bei denen 2002 mehr als 200 Menschen getötet wurden.

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Sein Problem sei immer, dass er sich als historischer Erzähler für einen Erzählstrang entscheiden muss – und dabei aber immer an das "Ja, aber" denkt. Dass Geschichte eine Frage der Perspektive ist, bewies Michael Laffan vergangene Woche an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften bei einem JESHO-Vortrag und im dazugehörigen Podcast. Sein Thema: Jihadismus in Indonesien. Der Historiker zeichnete detailliert nach, wie unter der japanischen Besatzung von 1942 bis 1945 Muslime im Land zwar mit Japan kooperierten, aber gleichzeitig den Jihad aus riefen. Im STANDARD-Gespräch zeigt der Historiker von der US-Universität Princeton auf, dass das Zulassen von nur scheinbaren historischen Widersprüchen ein Schlüssel zum Verständnis des globalen Jihadismus ist.

STANDARD: Muslimische Führer rufen den Jihad aus, kooperieren aber mit Japan – wie geht das?

Laffan: Viele von ihnen haben die japanischen Behauptungen für bare Münze genommen, dass sie die Indonesier von den Kolonialisten befreit hätten. Einige waren auch in Positionen, wo sie die Beziehungen zu den Japanern für sich nutzen konnten. Die, die über den Jihad sprachen, taten das als "Krieg zur Selbstverteidigung", um die "Heimat", die Nation zu befreien. Die 1940er waren für die muslimischen Führer eigentlich der Gipfel einer jahrzehntelangen Entwicklung: Sie mussten sich erst damit zurechtfinden, dass sie eine indonesische Nation waren.

STANDARD: Sie legen dar, dass dieser Nationalismus auch durch Auslandsreisen zustande kam?

Laffan: Menschen kamen im Ausland als "vom gleichen Ort kommend" zusammen. Sie pilgerten vom indonesischen Archipel zu den heiligen Städten Mekka oder Medina. Ihre Identitäten wurden auf ihrer Reise festgelegt, ihre Herkunftsländer in Reisepässe gestempelt. Dadurch entstand ein Gefühl von Gemeinsamkeit.

STANDARD: Was brachte die Leute nach Mekka und Kairo?

Laffan: Muslime gingen nach Mekka, um dort bei den besten islamischen Gelehrten von Südostasien zu studieren. Diese Art des traditionellen Netzwerks war auch am Archipel lebendig, die Spitze dieses Netzwerks war aber Mekka.

STANDARD: Warum gingen manche nach Mekka und andere nach Kairo?

Laffan: In Kairo gab es ein moderneres Curriculum. Kairo war ein Package-Deal. Ja, man hatte die Traditionsuniversität Al-Azar. Aber man hatte auch Zugang zu französischen Zeitungen, zur Moderne, zu nationalistischen Ideen. Und wenn diese Ideen zurück nach Indonesien kamen, wurden sie nicht wieder zerlegt, sondern bildeten ein modernes muslimische Paket. Zurück in Indonesien der 1940er wird Japan zum nützlichsten Beispiel für die Idee der "Heimat". Als sogenanntes orientalisches Volk habe Japan die Moderne gemeistert. Das galt als Beispiel, dem Muslime folgen sollten.

STANDARD: Beziehen sich Islamisten in Indonesien heute auf die damaligen islamischen Führer?

Laffan: Viele der damaligen muslimischen Organisationen entstanden mit den nationalistischen Organisationen. Erst ab 1920 gab es zunehmend eine Aufteilung. Die, die wir heute Islamisten nennen würden, meinten: Die Idee des Nationalstaates ist Fiktion. Es wäre unnötig, zu glauben, dass es einen Unterschied zwischen indonesischen, ägyptischen oder arabischen Muslimen gäbe.

STANDARD: Also tritt die panislamische Idee in den Vordergrund?

Laffan: Panislamismus wird mit dem Osmanischen Reich assoziiert, als der Sultan die Idee verbreiten wollte, dass er der Kalif aller muslimischen Gläubigen sei. Insbesondere nach der Auflösung des Osmanischen Reichs wurde eine muslimische Gemeinschaft unter einem Kalifen als notwendig erachtet. Die Frage war: Wer wird nun der neue Kalif und Beschützer der Muslime weltweit? Gleichzeitig haben aber alle aus ganz praktischen Gründen den Staat akzeptiert. Sogar die Islamisten, die hinter den Anschlägen in Bali 2002 steckten, haben Südostasien zwar als eine Region konzipiert, aber sie trotzdem für ihre Operationen in drei Regionen aufgeteilt: Malaysien, Indonesien und die Philippinen.

STANDARD: Wie kommen wir von den 1940ern zu den Anschlägen in Bali 2002?

Laffan: Noch vor dem Fall Japans gab es die Diskussion, was denn die Grundlage für den indonesischen Staat sein sollte. Es gab eine Charta, welche ursprünglich die Gesetze der Scharia inkludiert hätte. Sukarno, der erste Präsident Indonesiens, hat das gestrichen. Die Revoltierenden dagegen meinten: Wir stimmen zu, dass es ein Indonesien geben sollte, aber es sollte ein Indonesien sein, das den Islam als Kernidentität erkennt. Sukarno hat diese Bewegungen mit großer Brutalität niedergeschlagen. Islamische Führer verschwanden und wurden exekutiert.

Viele in der heutigen islamistischen Bewegung sind Söhne und Enkel dieser Leute. Nach dem Fall von Suharto (Diktator von 1967 bis 1998, Anm.) traten diese Organisationen wieder in Erscheinung. Die darauffolgende Gewalt wurde von islamistischen Gruppen als globale Kreuzzugsverschwörungstheorie vergoren – was sich heute auf saudische Propaganda zurückführen lässt. Die Islamisten konnten sich etablieren, indem sie behaupteten, dass Muslime abgeschlachtet würden, die Regierung aber nichts dagegen tue. Sie würden nun übernehmen und für die Indonesier einen Jihad durch führen.

STANDARD: Und Al-Kaida hat Leute nach Indonesien geschickt?

Laffan: Viele der Autoritätsansprüche kommen von Leuten, die in Afghanistan gekämpft haben. So kamen die Verbindungen zustande. Südostasien war für die Al-Kaida nützlich, weil es dort viele reiche Leute gibt. Südostasien gilt als Pool für Hilfskräfte im globalen Jihad. Man war weg, man hat die Ausbildung, man hat für die größere Sache gekämpft. Früher war damit der Kampf gegen den Kolonialismus gemeint. Und heute gegen globale Kräfte, die gegen den Islam sind. Wegzugehen und wiederzukommen ist wie früher eine sehr wichtige Methode, sich aufzuwerten.

STANDARD: Gewinnen heute in Indonesien radikalere Kräfte die Oberhand?

Michael Laffan war für eine Vorlesung der ÖAW in Wien.
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Laffan: Ich habe zum Beispiel in Yogyakarta gesehen, wie die Menschen fromme Kleidung übernehmen. Man spricht von der "Grünung" der indonesischen Gesellschaft – Grün ist ja die Farbe des Propheten. Aber gleichzeitig sind die Leute nicht anders als früher. An einer Ecke der Hauptstraße gab es ein Open Mic, wo Frauen in Hidschab moderne Lieder aus dem Westen gesungen haben. Es fühlte sich so an, als wäre eine nach oben hin mobile Mittelschicht in der Mehrheit. (Anna Sawerthal, 12.12.2019)