Wenn die Koalitionsverhandlungen noch länger dauern, will Brigitte Bierlein doch aktiver regieren

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Seit einem halben Jahr ist Brigitte Bierlein Bundeskanzlerin der Übergangsregierung. Die ehemalige Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs gab bisher nur wenige Interviews. Nun, da die türkis-grünen Koalitionsverhandlungen voranschreiten, blickt die 70-Jährige im STANDARD-Gespräch auf ihre Amtszeit nach der Causa Ibiza zurück – und macht einen Blick nach vorn, auf die Herausforderungen, die Österreich zu meistern hat.

STANDARD: Was sagt es über die Kultur eines Landes, wenn eine Regierung so beliebt ist, die lieber verwaltet als politisch gestaltet?

Bierlein: Es gab im Mai große Turbulenzen, jetzt ist die Bevölkerung froh, dass Ruhe und Gelassenheit eingekehrt sind, dass die Amtsgeschäfte weitergeführt werden, dass Österreich weiter bestens verwaltet wird – also: dass das Leben grundsätzlich normal weitergeht. Das war, glaube ich, das Atout unserer Regierung. Aber das ist kein Idealzustand.

STANDARD: Sie regieren ein Land, das zur Ruhe kommen wollte?

Bierlein: Ja, ich glaube schon. Aber das sagt nichts Negatives oder Positives über das Land; es sagt nur, dass das Land vorher in einer unruhigen Stimmung war und – dem geschuldet – froh ist, dass das vorbei ist. Das Land möchte sicher nicht quasi im Siebenschläferschlaf versinken.

STANDARD: Irgendwann lassen sich wichtige politische Entscheidungen aber nicht mehr länger aufschieben.

Bierlein: Die Bevölkerung würde nach einiger Zeit unruhig werden, wenn notwendige Reformen nicht angegangen werden. Im Sinne unseres Amtsverständnisses und auch dessen, was wir mit dem Bundespräsidenten vereinbart haben, treffen wir solche Entscheidungen nicht. Wir wollen einer späteren Regierung keine Schulden hinterlassen. Das hat zum Teil das Parlament gemacht, im sogenannten freien Spiel der Kräfte, aber wir als Regierung bewusst nicht. Weil wir dazu kein Mandat haben und auch nur ein vorläufiges Budget. Das würde die Bevölkerung nicht goutieren. Die nächste Regierung muss wissen, was sie vorrangig im Regierungsprogramm haben möchte.

STANDARD: Was, wenn diese nächste Regierung weiter auf sich warten lässt, weil sich etwa die Verhandlungen zwischen ÖVP und Grünen in die Länge ziehen oder gar scheitern?

Bierlein: Wir stehen sicher bis zur letzten Stunde zur Verfügung, hoffen aber auf einen Abschluss in nächster Zeit. Ob das jetzt Weihnachten oder Jänner ist, ist, glaube ich, nicht so wichtig. Aber wenn sich der Prozess länger hinzieht, würde die Bevölkerung unser Amtsverständnis nicht mehr so erfreut hinnehmen. Wir haben ja bislang keine hohen Positionen besetzt, keine Botschafter, keine Sektionsleiter bestellt, keine Gesetze auf den Weg gebracht, mit wenigen Ausnahmen. Wenn es länger dauert, müssten wir als Regierung daher unser Amtsverständnis in Absprache mit dem Bundespräsidenten reflektieren und ändern.

Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein an ihrem Schreibtisch.
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STANDARD: Sie würden dann eine aktivere Rolle einnehmen?

Bierlein: Das glaube ich schon. Auf längere Sicht geht es so nicht, weil man viele Entscheidungen nicht endlos vor sich herschieben kann. Zum Beispiel ist der Posten des Verfassungsgerichtshofpräsidenten durch meinen Abgang noch unbesetzt, die Ausschreibung ist nun schon recht lange vorbei. Wenn es länger als bis Jänner dauert, müssten wir uns gemeinsam mit dem Bundespräsidenten ein Prozedere überlegen, wie wir als Regierung weitermachen.

STANDARD: Bekommen Sie gelegentlich ein Update aus den Regierungsverhandlungen, damit Sie planen können?

Bierlein: Nein. Ich weiß nicht mehr als Sie. Ich habe mit allen Klubobleuten Gespräche gehabt, und ich glaube, sie wissen selbst nicht, ob es vor Weihnachten geht, ob es überhaupt geht. Aber dass nichts aus den Verhandlungen nach außen dringt, werte ich als ein gutes Zeichen.

STANDARD: Sie selbst und einige Ihrer Ministerinnen und Minister haben ihr Amt sehr zurückhaltend ausgelegt. Andere, wie etwa der Verteidigungs- und der Innenminister, waren forscher. Haben die beiden Ihre Strategie durchkreuzt?

Bierlein: Wir waren vor allem dort zurückhaltend, wo es um mögliche Mehrausgaben ging. Da wollten wir der nächsten gewählten Regierung keine zusätzlichen Bürden auflasten. Was jeder von uns aber im Rahmen seiner Ressortverantwortung getan hat, war völlig in Ordnung.

STANDARD: Zum Beispiel das Polizeipferdeprojekt abzudrehen.

Bierlein: Da gab es eine Entscheidung zu treffen, wie man weitertut. Das hat Innenminister Wolfgang Peschorn getan.

STANDARD: Fanden Sie es nicht ungewöhnlich, dass er sich selbst an die Spitze der BVT-Reformkommission gestellt hat?

Bierlein: Die Causa BVT ist zuvor nicht optimal gelaufen. Es lag in der Ressortverantwortlichkeit des Innenministers zu sagen, dass er eine Reform und eine Neuaufstellung dieses Bundesamtes anstrebt. Das war sehr nachvollziehbar für mich.

STANDARD: Peschorn hat hier Position bezogen und wurde von seinem Amtsvorgänger Herbert Kickl kritisiert. Der meinte sinngemäß, Peschorn betreibe ÖVP-Parteipolitik und verfolge eigene Karriereinteressen.

Bierlein: Soweit ich informiert bin, gehört der Innenminister keiner Partei an. Mir wäre auch nie aufgefallen, dass er einseitig agiert hätte. Dass der Amtsvorgänger vielleicht nicht zufrieden ist mit der Amtsfortführung – soll sein.

Bierlein im Gespräch mit STANDARD-Chefredakteur Martin Kotynek und seiner Stellvertreterin Petra Stuiber.
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STANDARD: Vizekanzler Clemens Jabloner hat bald nach Amtsantritt einen "Notstand in der Justiz" konstatiert; 90 Millionen Euro fehlen. Warum haben Sie als Juristin nicht mehr getan, um die Justiz zu unterstützen?

Bierlein: Die Justiz war 30 Jahre lang meine berufliche Heimat. Sie liegt mir sehr am Herzen. Wir haben gemeinsam mit dem Justizminister versucht, auch außerhalb von legislativen Maßnahmen, für das Bundesverwaltungsgericht zusätzliche Juristen zu bekommen – etwa über Verwaltungspraktikanten. Wir haben uns bemüht, den Ausbau der Justizanstalt St. Pölten auf den Weg zu bringen, weil die Justizanstalt Josefstadt in Wien aus allen Nähten platzt. Es mangelt aber vor allem am nichtrichterlichen Personal. Man wartet zu lang auf ein Protokoll, auf eine Urteilsausfertigung, weil es zu wenige Schreibkräfte gibt. Und es gibt zu wenige Justizwachebeamte, das ist ein großes Problem. Hier fehlt es aber auch an Nachwuchskräften. Viele wollen zur Polizei, aber nur wenige zur Justizwache. Die Herausforderungen sind komplex, die kann eine Übergangsregierung nicht lösen. Schon gar nicht mit einer Budgetfortschreibung.

STANDARD: Trotzdem: Hat es Sie nicht gereizt zu sagen: Dieses Problem löse ich jetzt?

Bierlein: Ja, aber wie? Wenn man kein Budget hat, ist das schwer. Hätten wir von anderen Ressorts umschichten sollen? Das wäre weder fair noch vom Stellenplan her möglich gewesen.

STANDARD: Abgesehen von budgetwirksamen Maßnahmen: Wieso haben Sie nicht mehr Flagge gezeigt in Bereichen, in denen sich Parteien traditionell schwertun, weil sie Eigeninteressen haben – etwa beim ORF-Gesetz oder bei der Parteienfinanzierung?

Bierlein: Es wäre schwierig gewesen, etwas auf den Weg zu bringen, wenn sich die gewählten Parteien nicht einig sind. Wir brauchen für Gesetzesvorhaben eine Mehrheit im Parlament. Und das Parlament hat in den vergangenen Monaten mehrmals gezeigt, dass es eigene Wege geht.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Bierlein: Vom Abdullah-Zentrum bis zur Pensions- oder Hacklerregelung – da hat man gesehen, dass es auch im Parlament Partikularinteressen gibt.

STANDARD: Das freie Spiel der Kräfte im Parlament hat sich nicht bewährt?

Bierlein: Die Parlamentarier haben eben gemacht, was ein Parlament machen kann. Dazu gehört wohl auch, dass man vor einer Wahl noch ein paar "Wahlzuckerln" verteilt. Wir waren erstaunt, dass es gleich am ersten Tag, als wir uns dem Nationalrat vorstellten, zu rund 30 Beschlüssen kam, für die sich zum Teil ganz unterschiedliche Mehrheiten fanden.

STANDARD: Schauen wir in die Zukunft. Da kommen einige Themen auf uns zu: Klimawandel, Brexit, das teure Pensionssystem, es gibt Nullzinsen, Korruption und Postenschacher, die Digitalisierung hat nicht nur Vorteile. Wo müssen wir am ehesten aufholen?

Bierlein: Sicher beim Klimaschutz, da wird die nächste Regierung einiges tun müssen. Ich bin überzeugt, dass man das nur gemeinsam mit der Wirtschaft machen kann. Österreich ist ein Land der Unternehmer, kleiner und großer Betriebe, es lebt vom Export; es gilt, diese Arbeitsplätze zu sichern. Wobei viele Wirtschaftstreibende ohnehin für den Klimaschutz zu gewinnen sind. Man kann nicht auf einen Schalter drücken, und dann ist alles anders. Es gibt schon viele Fortschritte, aber wenn ich jung wäre, würde ich mich möglicherweise auch auf die Straße begeben.

STANDARD: Sie würden bei Fridays for Future mitmachen?

Bierlein: Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich noch einmal 16 wäre. Aber ich verstehe die Jugend, dass sie für etwas brennt. Im Bildungsbereich gibt es auch viel zu tun, da geht es um den Ausbau der Ganztagsschulen oder um eine bessere Betreuung – nicht nur im Sinne alleinerziehender Mütter, sondern insgesamt, um die Berufstätigkeit der Frauen zu fördern.

STANDARD: Bei der Bildung sind wir Europameister in den Ausgaben, aber das Ergebnis ist nicht überzeugend. Liegt das auch am Föderalismus?

Bierlein: Es wäre an der Zeit, die Staatsreform weiterzudenken. Das hat zwar der Österreich-Konvent schon versucht, aber das Einzige, das meiner Erinnerung nach umgesetzt wurde, sind das Bundesverwaltungsgericht und die Landesverwaltungsgerichte.

STANDARD: Sie haben das Thema Gleichberechtigung angesprochen, es ist Ihnen wichtig. Warum haben Sie Ursula von der Leyen keine Frau als EU-Kommissarin vorgeschlagen?

Bierlein: Ich hätte das gerne gemacht.

STANDARD: Was hat Sie gehindert?

Bierlein: Wir haben nach einer Frau gesucht, mir wurden auch verschiedene, sehr respektable Namen genannt. Ich brauche allerdings nicht nur einen einstimmigen Ministerratsbeschluss, sondern auch eine Mehrheit im Parlament. Und ich habe mit allen Parlamentsparteien über jeden einzelnen Namen gesprochen. Für keine habe ich eine Mehrheit bekommen. Johannes Hahn war als Einziger mehrheitsfähig. Mehr noch: Der Beschluss im Nationalrat war erstmals, für mich überraschend, einstimmig – obwohl einige Mandatare doch eine Frau gewollt hatten.

Bierlein ist seit sechs Monaten Bundeskanzlerin.
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STANDARD: Dennoch wäre eine Frau ein tolles Signal gewesen.

Bierlein: Bevor Österreich wegen nationaler Unstimmigkeiten womöglich keinen Kommissar nominiert, oder einen mit weniger wichtigem Dossier, war mir das so lieber.

STANDARD: Warum machen Sie nicht ein paar strengere Vorgaben, um Frauen in Spitzenpositionen zu bringen – etwa bei der Parteienfinanzierung oder für Quoten bei der Besetzung von Vorständen in Unternehmen, an denen der Staat beteiligt ist?

Bierlein: Ich hoffe schon, dass die nächste Regierung zur Hälfte aus Frauen besteht. Vor allem, wenn die Grünen mitregieren. Sie haben ja sehr viele Frauen in ihren Reihen. Und man muss auch Sebastian Kurz zugutehalten: Die Bundes-ÖVP hat ihre Kandidatinnen und Kandidaten zuletzt nach dem Reißverschlussprinzip nominiert.

STANDARD: Sie selbst standen als Frau an der Regierungsspitze sehr unter Beobachtung– wie Sie sich kleiden, Ihre Haare tragen, welche Events Sie besuchen. Hat Sie das gestört?

Bierlein: Damit muss man rechnen. Ich war schon in so vielen Positionen, sehr oft auch als erste Frau. Zugegeben, diese Funktion ist schon eine andere Dimension. Aber ich habe damit gerechnet, dass auf mich geschaut wird und man gut oder schlecht findet, was ich anhabe. Bei einem Mann würde man wahrscheinlich nie sagen: Welch hässliche Krawatte, wie schief die hängt – obwohl: Die Slim-Fit-Anzüge einer meiner Vorgänger sind auch besprochen worden.

STANDARD: Die Öffentlichkeit weiß nur wenig über Sie persönlich. Dennoch sind Sie laut Umfragen fast so beliebt wie der Bundespräsident. Wie erklären Sie sich das?

Bierlein: Ich habe nicht darauf hingearbeitet. Aber es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass es mich nicht trotzdem freut. Das ist bestimmt auch dieser Sondersituation geschuldet und der Tatsache, dass wir uns alle gut verstehen und ruhig arbeiten. Und ich bin ein Mensch, der nicht sehr eingebildet oder abgehoben ist.

STANDARD: Wenn bald eine neue Regierung stehen sollte – fürchten Sie den Pensionsschock?

Bierlein: Nein, eigentlich nicht. Obwohl ich, seit ich 22 war, unentwegt gearbeitet habe. Nichts mehr zu arbeiten ist eine neue, ungewohnte Vorstellung. Andererseits weiß ich nicht, wie viel an Lebenszeit mir noch geschenkt ist. Mit fortschreitenden Jahren will man noch das Leben gestalten oder Freizeit haben und ins Theater, in die Oper, auf Vernissagen gehen.

STANDARD: Was planen Sie sonst noch?

Bierlein: Erstens meine Papiere zu sortieren, die ich immer nur irgendwo ablege, Bücher einordnen, wieder Ordnung in den Alltag daheim bringen. Den Kühlschrank mal wieder auffüllen, denn der ist fast immer leer. Ich werde wohl eine Zeitlang Ruhe brauchen. Vielleicht ergibt sich danach etwas, das mich wieder interessiert.

STANDARD: Was könnte das sein?

Bierlein: Ich weiß nicht, jedenfalls kein Amt, keine Funktion, keine öffentliche Funktion. Vielleicht eine Tätigkeit im künstlerischen Bereich oder bei einer NGO, aber kein Vollzeitamt.

STANDARD: Und wenn Ihnen von einer Partei die Kandidatur für die nächste Bundespräsidentenwahl angeboten wird?

Bierlein: Das ist undenkbar. Wir haben einen ganz ausgezeichneten Bundespräsidenten, und wenn er noch eine weitere Amtszeit dazulegt, was zu hoffen und zu wünschen wäre, fände ich das wunderbar für das Land.

STANDARD: Insgesamt: Haben Sie sich Politik so vorgestellt?

Bierlein: Ich habe mir nicht wirklich etwas vorgestellt. Aber es ist nicht unangenehm. (Martin Kotynek, Petra Stuiber, 11.12.2019)