Im Gastkommentar knüpft Kulturwissenschafter Christoph Landerer an die Narrativ-Debatte an. Er findet, dass die SPÖ nicht die Zeit hat, um im Abstrakten zu verweilen.

Die Sozialdemokraten, so möchte man die berühmte elfte Feuerbach-These von Karl Marx umkehren, haben die Welt nur verschieden verändert, es kommt drauf an, sie zu interpretieren. Doch während die einen noch das dafür passende Narrativ suchen, sind die anderen von dieser Suche nur mehr genervt, ja sie fühlen sich vielleicht sogar gefoppt. Aus sprachhistorischer Sicht nicht unverständlich, das Grimm’sche Wörterbuch verzeichnet als Nebenbedeutung von "narrieren": "Narrenpossen treiben, dummes Zeug machen".

Was auch immer die SPÖ aktuell braucht, ein "Narrativ" klingt in den Ohren der meisten Wähler nach Spin und Marketing-Fuzzis. Daran besteht kein Bedarf. Als Handlungsanleitung für Strategen mag es seine Funktion haben, und natürlich müssen Sozialdemokraten wissen, wofür sie stehen. Aber die SPÖ kann nicht mehr im Abstrakten verweilen, sie hat die Zeit nicht. Sie braucht eine möglichst konkrete, möglichst ungeschminkte und am Ende innerparteilich möglichst konsensfähige Analyse ihrer Situation, und man sollte die unerfreulichen Seiten dieser Lagebestimmung weder behübschen noch, wie sonst üblich, auf Probleme in der "Kommunikation" schieben. Die Stunde der Krise ist nicht die Stunde der Phraseologen. Was also steht an?

Pamela Rendi-Wagner, im Hintergrund Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch, führt die SPÖ in bewegten Zeiten. Die Partei braucht erst "finanzielle Genesung", dann "inhaltliche Erneuerung".
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· Die SPÖ braucht eine empirisch gestützte Fehleranalyse
So verlockend die ideologische Taube auf dem Dach auch sein mag, die SPÖ braucht zunächst den empirischen Spatz in der Hand. Der Weg zum Erfolg an der Wahlurne kann nur über eine Analyse der Wahlmotive führen. Die SPÖ muss wissen, warum sie etwa bei der letzten Nationalratswahl mehr als doppelt so viele Stimmen an die ÖVP verloren hat, wie sie von der FPÖ zurückgewinnen konnte. Die Gründe für das Ausrinnen der Partei, auf inhaltlicher, programmatischer und personeller Ebene, müssen auf dem Tisch liegen, ehe strategische Weichen gestellt werden und die Führungsdebatte an Fahrt gewinnt. Die Kakofonie der Meinungen ohne empirisches Fundament klärt nichts, sondern vertieft nur die Krise der Partei.

· Die SPÖ muss ihre Themen kennen und klar auf diese Themen fokussieren
Braucht die SPÖ nicht dennoch ein Narrativ? Möglicherweise nicht, auch die ÖVP hat keines. Ohne Sebastian Kurz, und ohne das Thema Migration, wäre ihr Wahlprogramm ein Ladenhüter geblieben, und ihr Team hätte 2017 um Platz zwei rittern müssen. Das konsistenteste Narrativ, jedenfalls jenes, das sich intellektuell am leichtesten erschließt, hat aktuell wahrscheinlich die FPÖ. Sie liegt in den Umfragen bei 15 Prozent. Was die SPÖ freilich braucht, ist eine erhebliche Nachschärfung bei ihren programmtragenden Themen. Ihr wesentlichstes Thema ist die Rolle des Staates, mit seiner Verteilungsfunktion, seinen Regelungskompetenzen, seinen Mitteln und Möglichkeiten zur Gestaltung der Gesellschaft. Im Unterschied zur ÖVP, die ihr Profil in Mitte-rechts-Regierungen schärfen konnte, sind die Konturen der SPÖ in großen Koalitionen verblasst. Wer aber nicht einmal den Mumm hat, seinen Parteigängern eine Erbschaftssteuer mit einer Freigrenze von einer Million Euro (!) zu erklären, der wird auf diesem Gebiet nur wenig zuwege bringen.

· Die Migrationsdebatte muss neu aufgerollt werden
Man wird der empirischen Analyse nicht allzu sehr vorgreifen, wenn man unter den Gründen für die Ausdünnung nach Mitte-rechts und ganz rechts das Migrationsthema an sehr prominenter Stelle vermutet. Die Analytiker der Partei haben die dafür relevanten Daten, aber die Strategen könnten sich entscheiden, das Thema weiter auszusitzen – im Vertrauen darauf, dass es sich unter einer wahrscheinlichen türkis-grünen Regierung irgendwann von selbst erledigt. Scheitern wird diese Strategie am Faktor Wien.

Wien ist in den letzten 15 Jahren sehr stark gewachsen, aber dieses Wachstum erfolgte auf Grundlage einer wenig selektiven Migrationspolitik, die in den Schulen, in der Wohnumgebung, im gesellschaftlichen Zusammenleben zu Problemen führt – manche eingebildet, viele real. Wenn die SPÖ bis zur Wiener Wahl keinen Modus findet, der es ihr erlaubt, diese Thematik auf einem konzeptuell ausgereiften und für den Wähler verständlichen Level zu verhandeln, könnte selbst das rote Wien verlorengehen. Dann ist endgültig, und möglicherweise final, Feuer am Dach.

· Die SPÖ braucht einen erfahrenen politischen Praktiker an der Spitze der Partei
In gewisser Weise ist es paradox: Wir erleben zugleich eine Krise der klassischen Parteien – auch die ÖVP wurde mittlerweile in eine "Bewegung" umgewandelt – und eine Renaissance des Berufspolitikers. Wolfgang Schüssel hatte elf Jahre Regierungserfahrung, bevor er Kanzler wurde, Kurz war vier Jahre Minister, davor fast drei Jahre Staatssekretär. Beide haben nie etwas anderes betrieben als Politik. Alle SPÖ-Kanzler der Zweiten Republik kamen aus Ministerämtern, mit zwei Ausnahmen: Alfred Gusenbauer und Christian Kern; beide hielten sich keine zwei Jahre.

Pamela Rendi-Wagner wurde überhastet gekürt, mit neun Monaten Ministertätigkeit ist sie nicht die erfahrene Praktikerin, die die Partei benötigt. Auch die berühmte Ochsentour hat sie nicht durchlaufen. Für echten Erfolg auf dieser höchsten Stufe der Politik braucht es aber beides: Regierungserfahrung und eine intime Kenntnis der Partei.

· Die Lager der SPÖ brauchen eine verbale Abrüstung
Der Wähler ist der Souverän – mit all seinen Schwächen, Mängeln, und auch bisweilen weniger liebenswerten Eigenschaften. Die SPÖ ist die einzige österreichische Partei, in der ein Teil der Wählerschaft einen anderen Teil verachtet. Als progressive Partei kann sie sich nicht darauf beschränken, das Erreichte zu verwalten; die Intellektuellen, auch die "Bobos", die "linke Elite", sind ein wichtiger Nährboden der programmatischen Erneuerung. Aber es bedarf einer Abrüstung der Worte, um die verschiedenen Lager der Partei miteinander zu versöhnen. Wer einer liberalen Migrationspolitik skeptisch gegenübersteht, muss weder "Ausländerfeind" sein noch gar "Rassist". Doch die passende Sprache muss von einer angemessenen Analyse unterfüttert werden, und hier herrscht nach wie vor Handlungsbedarf. (Christoph Landerer, 11.12.2019)