Die Labour-Partei konnte die Brexit-Gegner nicht auf ihre Seite bringen. Mittlerweile wird laut darüber diskutiert, ob Corbyn der richtige Parteichef ist.

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"Ihr habt die Sache vergeigt", sagt die elegante Dame und wirft zornig die Tür ihres blauen BMW zu. Mit Labour-Leuten will sie gar nicht sprechen, aber so viel sagt sie dann doch: Eigentlich neige zur größten britischen Oppositionspartei, den konservativen Premier Boris Johnson kann sie wegen seiner Brexit-Politik nicht leiden. "Aber Jeremy Corbyn in der Downing Street? Kommt nicht infrage."

Es dämmert schon an diesem klaren Nachmittag im Dezember. Durch die Knowsley Road im Londoner Bezirk Battersea südlich der Themse spazieren kleine Grüppchen von Aktivisten mit roten Klemmbrettern. Bewaffnet mit Informationen von früheren Wählerbegegnungen klopfen sie an einer Tür ("ein Stammwähler"), klingeln an einer anderen ("Frau eher ja, Mann eher nein"), lassen aber auch immer wieder Häuser aus. Warum eigentlich? "Wir wollen ja nicht Leute belästigen, die ohnehin Labour nicht wählen", erläutert Politikveteran Denis MacShane, selbst 18 Jahre lang Unterhausabgeordneter.

Die erste Adventswahl seit knapp 100 Jahren wirft ganz eigene Probleme auf. Wie den Labour-Werbern in Battersea ist es Wahlkämpfern aller Parteien in den 650 Bezirken des Landes immer wieder ergangen: Kaum jemand ist daheim. In den kurzen Adventstagen bleiben die von der Wählerschaft großteils gutgeheißenen Hausbesuche auf jene Zeit beschränkt, in denen die meisten Menschen arbeiten. Tritt die Dunkelheit ein, wird unangemeldeten Besuchern nur ungern die Tür geöffnet.

Viele Ideen, müder Chef

Mit mehr als 450.000 Mitgliedern konnte die Arbeiterpartei deutlich mehr Aktivisten in die Schlacht schicken als die regierenden Tories (160.000) oder die Liberaldemokraten (120.000). Die überwiegend jungen Novizen erlebten aber immer wieder Szenen wie jene in Battersea: Kaum jemand teilt ihre Begeisterung für den Parteivorsitzenden Corbyn.

Wie bei der Wahl vor zwei Jahren trommeln die konservativen Medien seit Monaten gegen den 70-jährigen Sozialisten, erinnern an dessen Unterstützung für die irische Terrortruppe IRA in den 1980er-Jahren und für das venezolanische Regime von Hugo Chávez. Anders als vor zwei Jahren macht der 2015 überraschend zum Parteichef gewählte Altlinke die schamlose Propaganda rechter Medien gegen ihn nicht durch frische Auftritte wett.

Die vielen Labour-Ideen wie die Verstaatlichung von Eisenbahn und Energieversorgern oder ein gewaltiges Investitionsprogramm für Schulen und Krankenhäuser mögen populär sein – Corbyn selbst wirkt müde, der frische Optimismus der Kampagne vor zwei Jahren scheint verflogen. Um den Hals hängt ihm auch der Mühlstein des Antisemitismusvorwurfs; ein Prüfverfahren der Menschenrechtskommission gegen Labour bleibt anhängig.

Kaum Optimismus

In vertraulichen Gesprächen mag sich kaum ein Labour-Politiker zu dem öffentlich zur Schau getragenen Optimismus durchringen. Dem gesundheitspolitischen Sprecher Jonathan Ashworth zufolge ist die Situation "entsetzlich düster", und zwar besonders in jenen Städten im englischen Mittelland und im Norden, wo die Menschen seit Jahr und Tag Labour gewählt haben: Wakefield, Ashfield, Bassetlaw, Don Valley – für solide gehaltene Labour-Hochburgen dürften am Donnerstag an die Torys fallen.

"Die Leute mögen Johnson nicht, aber Corbyn können sie nicht ausstehen", erläuterte Ashworth einem vermeintlichen Freund, der das Telefongespräch mitschnitt und an die ultrarechte Website Guido Fawkes weitergab. Auf den Straßen von Battersea bestätigt sich Ashworths Diagnose. Besonders Frauen äußern sich extrem skeptisch über den Premierminister. Gleichzeitig hat kaum jemand ein gutes Wort übrig für dessen einzigen echten Rivalen. Corbyn könne sie keinesfalls wählen, erläutert eine Mittfünfzigerin und bekennt sich als Fan der Liberaldemokraten. "Aber die haben doch in diesem Wahlkreis ohnehin keine Chance", wendet Labour-Frau Sarah Helm ein. "Wenn Sie Johnsons harten Brexit verhindern wollen, müssen Sie hier in Battersea Labour wählen."

Kampf um jede Stimme

Tatsächlich macht das Mehrheitswahlrecht den kleineren Parteien das Leben schwer und beschert den beiden Großen Labour und Torys mehrere Hunderte sichere Sitze. In den umkämpften Bezirken kommt es auf jede Stimme an.Im schottischen Wahlkreis Fife-Nordost lag der SNP-Mann 2017 genau zwei Stimmen vor seiner liberalen Rivalin. Auch Battersea gehört zu jenen "Marginals", in denen sich die Wahl entscheidet. 2017 betrug Labours Vorsprung unter 77.500 Wahlberechtigten gerade einmal 2416 Stimmen. Die Kampagne ist ganz auf die lokale Kandidatin Marsha de Cordova zugeschnitten, ihre Flugblätter erwähnen Jeremy Corbyn mit keinem Wort. Corbyn habe keine Chance auf den Sieg, vertraut der Ex-Abgeordnete MacShane einer zweifelnden Wählerin an. "Aber Marsha, die sollten Sie wählen." (Sebastian Borger aus London, 10.12.2019)