Die digitalen Transformationen der zurückliegenden Jahre haben Journalisten mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert, die die Profession nach wie vor bis ins Mark erschüttern. Nicht nur die Strukturen des Journalismussystems befinden sich in einem Stadium der kontinuierlichen Neuausrichtung, seitdem die "Kostenloskultur" des World Wide Web die überkommenen journalistischen Erlösmodelle über den Haufen warf – und damit zentraler Auslöser einer (im Wesentlichen ökonomischen) "Medienkrise" wurde.

Gleichzeitig hat das Aufkommen zahlreicher neuer Akteure in den digitalen Öffentlichkeiten der Gegenwart, die sich häufig sozialer Medien oder anderer partizipativer Kanäle bedienen, um die journalistischen Traditionsmedien auf die Probe zu stellen, zu einer weitreichenden Machtverschiebung in den Öffentlichkeitsberufen geführt, die nicht zuletzt auch darauf ausstrahlt, wie Journalisten ihre professionelle Identität definieren. Diese Herausforderungen machen es zu einer unerlässlichen Aufgabe, sich kritisch mit den Normen und Werten journalistischer Praxis im digitalen Zeitalter auseinanderzusetzen – und diese gegebenenfalls neu auszutarieren. Auch wenn es viele Hinweise darauf gibt, dass sich die Professionsethik des Journalismus gegenwärtig in einem Prozess der Neuaushandlung befindet, sind systematische Bestandsaufnahmen zu den ethischen Konflikten eines Journalismus unter digitalen Vorzeichen bislang ein Lückenfüller.

Häufig dysfunktionale Effekt

Dazu gehört unter anderem die Diskussion eines der dringlichsten Probleme journalistischer Akteure in partizipativen Medienumgebungen: die Frage des Umgangs mit dysfunktionaler Anschlusskommunikation auf journalistischen Nachrichtenwebsites. Tatsächlich hat die Vorstellung, dass sich über kollaborative Formen der Content-Produktion die Qualität der Berichterstattung steigern lassen würde, sowohl in der redaktionellen Praxis als auch in der Medienforschung lange Zeit großen Enthusiasmus hervorgerufen. Gegenwärtig scheinen die hochtrabenden Hoffnungen allerdings weitgehend verflogen zu sein.

Jedenfalls hat der praktische Umgang mit verschiedenen Phänomenen der Partizipation gezeigt, dass diese eben nicht automatisch zu einem besseren Journalismus führen, sondern im Gegenteil häufig dysfunktionale Effekte mit sich bringen. Aktuellen Problemen der Onlinekommunikation wie etwa Hatespeech und systematischem Trolling stehen Journalisten bislang meist hilflos gegenüber – besonders, wenn sie dabei selbst zur Zielscheibe der Kritik werden. Bisherige Initiativen, die es sich zum Ziel gemacht haben, Journalisten beim Umgang mit Onlinehass beratend zur Seite zu stehen – wie etwa der Fünfpunkteplan des Ethical Journalism Network –, konnten bis dato zumindest noch keine nachhaltigen Langzeit-Effekte bewirken.

Partizipation führt nicht nur zu positiven Auswirkungen.
Foto: APA/AFP/JOSH EDELSON

Zwar hat sich die empirische Journalismusforschung intensiv mit unterschiedlichsten Formen der Partizipation von Mediennutzern auseinandergesetzt. Ihre dysfunktionalen "Nebenwirkungen" sind dabei bis dato allerdings weitgehend ausgeblendet worden. Was genau bringt Nutzer journalistischer Web-Angebote dazu, in dysfunktionale Kommunikationsmuster wie Trolling oder Hatespeech zu verfallen? Was ist ihr spezifischer (biografischer, politischer und so weiter) Hintergrund? Was ist ihr Urteil über die Funktionen und Leistungen des Journalismus und der Medien? Was sind ihre genauen Motive dafür, Journalisten und ihre Berichterstattung zu kritisieren? Und welchen Umgang wünschen sie sich mit Redaktionen und Gleichgesinnten?

Diese und ähnliche Fragen nimmt eine aktuelle Studie des Instituts für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung (CMC) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Alpen-Adria-Universität in Wien unter die Lupe. Im Rahmen eines zweistufigen qualitativen Forschungsdesigns wurden dafür zum einen problemzentrierte Interviews mit Redaktionsverantwortlichen führender deutschsprachiger Online-Nachrichtenwebsites realisiert – und zum anderen mit Nutzern, die regelmäßig störende Kommentare auf diesen Websites veröffentlichen. Die insgesamt 22 Gespräche wurden anschließend transkribiert und einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen.

Den typischen "Troll" gibt es nicht!

Die Auswertung ermöglicht einen nuancierten Blick auf aktuelle Phänomene dysfunktionaler Anschlusskommunikation auf journalistischen News-Seiten. Sie zeigt, dass es den typischen "Troll" – zumindest im deutschen Sprachraum – nicht gibt; stattdessen erscheint es angebracht, störende Kommentierer anhand ihrer unterschiedlichen Motive zu differenzieren.

Tatsächlich waren Internetnutzer, die nur deswegen destruktive Kommentare posten, weil sie andere belästigen und damit einen geordneten inhaltlichen Diskurs unterbinden wollen, in der Studie eher die Ausnahme. Eine Mehrzahl der Gesprächspartner präsentierte sich stattdessen als eine Art "Glaubenskrieger". In vielen Fällen sind sie von einem mehr oder weniger stark ausgeprägten politischen oder anderswie beeinflussten Sendungsbewusstsein angetrieben, für das sie öffentlich einstehen und das sie – notfalls mit harten Bandagen – verteidigen. Im Einzelnen lassen sich wenigstens fünf unterschiedliche Motivgruppen unterscheiden:

  • Wahrheitsfindung: Einige User hinterlassen störende Kommentare, weil sie nicht weniger als die "ganze Wahrheit" aufdecken wollen, die aus ihrer Sicht in vielen professionell gestalteten journalistischen Beiträgen immer wieder ausgeblendet oder gezielt "vertuscht" wird.
  • Meinungsbildung: Andere hingegen verfolgen ein weniger absolutes Ziel. Sie wollen den Journalismus nicht von Grund auf verändern, sondern stattdessen die Vielfalt der publizierten Meinungen vergrößern. Ihre persönlichen Sichtweisen (oder mitunter auch ein nachweisbares Expertenwissen zu bestimmten Themen) verstehen sie dabei als gezielte Beiträge zur Stimulierung eines breiteren inhaltlichen Diskurses.
  • Provokation: Wieder andere Kommentierer betonen das Element der Provokation. Sie halten es für eine notwendige und unumgängliche Strategie, andere Nutzer mit aufreizenden Wortmeldungen herauszufordern, weil sich auf anderem Wege in der Online-Welt kaum Gehör finden lasse. Allerdings erscheint ihnen Provokation weniger als Selbstzweck, sondern vielmehr als bewusst eingesetztes Instrument zur Aufmerksamkeitssteuerung.
  • Aggressionsbewältigung: Daneben gibt es eine Gruppe von Usern, die ihre Online-Aktivitäten als Akt der Aggressionsbewältigung beschreiben. Sie sind vom konventionellen Journalismus so enttäuscht, dass sie sich einen Kanal zum Frustabbau suchen müssen. Und der bietet sich, wie es einer der Gesprächspartner ausdrückte, "lieber online als im richtigen Leben, oder?"
  • Unterhaltung: Darüber hinaus offenbarten sich einige weitere Kommentierer, die zugaben, störende Postings nur zum Spaß zu veröffentlichen. Dieser Typus kommt dem Bild des typischen "Trolls" vermutlich am nächsten: Er tritt nicht als Anwalt einer Sache oder Personengruppe auf, sondern möchte sich mit seinen Inputs in erster Linie auf Kosten anderer amüsieren.

Praktische Erfahrungen mit Onlinekommentaren legen nahe, dass dieser letztgenannte Nutzertyp auf vielen Nachrichtenplattformen oft sehr dominant wirkt. Im Sample der Wiener Troll-Studie war er jedoch erkennbar unterrepräsentiert – was nicht zuletzt ein methodisches Problem darstellt: Im Vergleich zu anderen Kommentierern war diese Akteursgruppe deutlich schwieriger zu erreichen und von einer Mitwirkung an der Interviewserie zu überzeugen.

In Enttäuschung vereint

Trotz der offenkundigen Unterschiede in den Motiven disruptiver Kommentierer sind nahezu alle Teilnehmer der Studie in einem zentralen Merkmal vereint: ihrer Unzufriedenheit mit der Qualität journalistischer (Massen-)Medien, die sie kritisch und oft im scharfen Ton zum Ausdruck bringen.

Im Verlauf der Interviews wurde schnell deutlich, dass es sich bei einem Großteil der Gesprächspartner um intensive und versierte Mediennutzer handelt. Viele von ihnen gaben zu Protokoll, nahezu die gesamte Freizeit – oftmals bereits früh am Morgen vor der Arbeit, fast immer bis spät in die Nacht – für die Lektüre und Kommentierung journalistischer Beiträge zu opfern. Rezipiert wird dabei eine große Bandbreite unterschiedlicher Medienformate – sowohl etablierte "Mainstream"-Medien als auch spezialisierte Publikationen aus dem alternativen Spektrum. Fast ohne Ausnahme ließen die Gesprächspartner durchblicken, dass ihre Medienrezeption von hohen normativen Ansprüchen begleitet ist, wonach Journalisten ein breites Spektrum an gesellschaftlichen Aufgaben (Informationsfunktion, Meinungsbildungsfunktion, Kritik- und Kontrollfunktion, Integrationsfunktion und so weiter) zu erfüllen hätten.

Allerdings werden diese Erwartungen bei den Teilnehmern der Studie ganz überwiegend enttäuscht. Immer wieder ließen sich in den Interviews Anzeichen für eine generelle Unzufriedenheit mit dem aktuellen Nachrichtenjournalismus herausarbeiten, die sich mit einer langen Liste wiederkehrender Kritikpunkte präzisieren lässt. So wird "den Medien" etwa eine einseitige Themenauswahl und ein Mangel an Meinungsvielfalt vorgeworfen; ebenso kritisieren die Gesprächspartner eine vermeintliche Parteilichkeit vieler Journalisten, eine Überrepräsentation bestimmter (politischer) Eliten, eine Dominanz des Agenturjournalismus, einen allgemeinen "Herdentrieb" in der Branche sowie einen zweifelhaften Umgang mit Fehlern.

Mängelbeschreibungen wie diese führen unweigerlich zu einer Erosion des Vertrauens in professionell gestalteten Journalismus, die die interviewten User nicht nur im Gespräch für die Studie zum Ausdruck brachten, sondern vor allem in regelmäßigen öffentlichen Kommentierungen der kritisierten Berichterstattung. Die Nutzung der Kommentarfunktion auf journalistischen Nachrichten-Websites ist dabei nur ein verwendeter Kanal von vielen (auch wenn dieser von den Studienteilnehmern besonders intensiv frequentiert wird: manche Akteure berichteten von mehr als 100 solcher Wortmeldungen pro Tag). Häufig wird dieser allerdings noch flankiert durch kritische Postings auf Blogs und via Social Media – oder gar durch direkte Anrufe in der Redaktion.

Konstruktive Strategien zum Umgang mit Nutzerkommentaren

Derartige Einlassungen werden von journalistischen Akteuren oft als lästig empfunden – erst recht, wenn gängige Konversationsregeln dabei auf der Strecke bleiben. Jedoch verdeutlicht die Wiener Studie, dass auch provokativ vorgetragene Kommentare von Onlinenutzern im Kern häufig mit einem inhaltlichen Anliegen verbunden sind, das anderen Formen der Medienkritik nicht unähnlich ist. Indem die Studie mit ihrem qualitativen Forschungsansatz versucht, die Ziele und Beweggründe dieser webbasierten Medienkritik zu verstehen, liefert sie neue Einsichten und Argumente für die Entwicklung konstruktiver redaktioneller Strategien zum Umgang mit Nutzerkommentaren – und damit eine empirische Datenbasis, die im Zeitalter "postfaktischer" Nachrichtenagenden umso wichtiger erscheint.

Jedenfalls stellt nur ein kleiner Teil der interviewten Kommentierer den Journalismus im deutschen Sprachraum ganz grundsätzlich infrage. Die meisten Gesprächspartner warten demgegenüber mit durchaus praxisnahen Anregungen auf, wenn sie nach ihren Ideen zur Erhöhung journalistischer Qualitätsstandards gefragt werden: Mehr Transparenz in den redaktionellen Abläufen wird da gefordert, ein besseres Fehlermanagement, mehr Berichterstattung aus erster Hand oder auch verbesserte Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Journalisten – um nur einige Beispiele zu nennen. Mehr als alles andere erwarten die Studienteilnehmer aber eine erhöhte Bereitschaft zum Dialog, der eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Kritikpunkten überhaupt erst möglich machen würde. Aus Sicht der Nutzer ist diese Bereitschaft in deutschsprachigen Redaktionen bislang noch kaum ausgeprägt. Ohne Frage wäre für den Journalismus viel gewonnen, wenn die Vertreter der Profession gerade diese Ermahnung ernst nehmen und auch ihren unliebsamsten Kritikern dann und wann ein offenes Ohr schenken würden. (Tobias Eberwein, 16.12.2019)

Tobias Eberwein ist Senior Scientist am Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung (CMC) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien, und der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
Foto: Daniel Hinterramskogler