"Die Demoskopen sind sich nur über eines einig: Es wird knapp." Was sonst der Standardsatz aller Vorwahltexte ist, passt zum britischen Urnengang höchstens zur Hälfte. Stimmen die Umfragen, so lässt sich für die Abstimmung am Donnerstag eher das Gegenteil mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen: Geht es nach der Zahl der abgegebenen Stimmen, wird es alles andere als eng. Die Konservativen liegen in allen Befragungen klar voran. An Platz eins der Tories ist kaum zu rütteln. Zwischen sieben und 16 Prozentpunkten beträgt die Führung von Premier Boris Johnsons Wahlbewegung.

Und trotzdem kann sich die aktuelle Regierungspartei nicht in Sicherheit wiegen. Denn das britische Mehrheitswahlrecht, das gewöhnlich der stärksten Gruppe hilft, könnte sich diesmal gegen sie wenden. Immerhin gilt in jedem einzelnen Wahlkreis jene oder jener Abgeordnete als gewählt, die oder der die relative Stimmenmehrheit auf sich vereinen kann. An zahlreichen Orten planen Wählerinnen und Wähler ihre Stimme taktisch abzugeben. Wer gegen den Brexit ist – und das ist die knappe Mehrheit –, könnte nicht nach Parteipräferenz, sondern nach Siegeschancen der einzelnen Kandidaten im eigenen Wahlkreis votieren: etwa für die Liberaldemokraten dort, wo sie Chancen haben, für die Schottische Nationalpartei (SNP), Labour, Grüne, gemäßigte nordirische Parteien anderswo.

Taktisches Wählen

Die Anti-Brexit-Gruppe Remain United hat den Effekt in einer Umfrage des Instituts Com Res zu simulieren versucht. Sie kommt zum Schluss, dass die Frage des taktischen Wählens diesmal einen entscheidenden Einfluss haben kann. Würden Wählerinnen und Wähler ausschließlich nach Parteipräferenz entscheiden, kämen die Tories demnach auf eine Sitzanzahl von rund 340. Das ist deutlich mehr als die absolute Mehrheit. Sie ist vom Wahlresultat abhängig, zuletzt betrug sie 320 Stimmen, diesmal könnte sie etwas höher liegen. Grund dafür ist, dass die irisch-republikanische Partei Sinn Féin, die ihre Sitze in London traditionell nicht annimmt, heuer weniger Mandate gewinnen könnte.

Selbst wenn Labour die Wahl gewinnen sollte, könnte Jeremy Corbyn das Premiersamt verwehrt werden.
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Das könnte entscheidend sein. Denn wenn taktisch gestimmt wird, sehen Com Res und Remain United die Konservativen nur bei 322 Sitzen – und damit hauchdünn an der absoluten Mehrheit. Verfehlt Johnson diese, dürfte die Regierungsbildung für ihn sehr schwierig werden. Im Zuge der Brexit-Debatten hat er seine Beziehung zu fast allen anderen Parteien nachhaltig beschädigt. Auch die unionistisch-nordirische Partei DUP würde ihn wegen seines Deals mit der EU, der eine Zollgrenze in der Irischen See vorsieht, wohl ablehnen. Theresa Mays Minderheitsregierung hatte die Partei 2017 noch gestützt.

Verfehlt Johnson die Absolute, könnte das die Wahlverlierer von Labour an die Regierung spülen. Die Sozialdemokraten könnten sich mit den anderen Parteien wohl eher auf ein Übergangskabinett einigen. Ob der Premier dann Jeremy Corbyn hieße, ist aber offen. Er ist für die anderen Oppositionsparteien ein rotes Tuch. Vielleicht findet sich ein Kompromisskandidat. Oder eine Kandidatin. (Manuel Escher, 11.12.2019)