Wie in Perpignan demonstrierten dieser Tage auch in anderen Städten hunderttausende Franzosen gegen die geplante Rentenreform.

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So erstaunlich es nach einer Woche landesweiter Streiks in Frankreich klingt: Der genaue Rentenplan selbst war bisher gar nicht bekannt gewesen. Am Mittwoch präsentierte Premier Édouard Philippe endlich das Vorhaben, das Emmanuel Macron schon im Präsidentschaftswahlkampf 2017 angekündigt, wegen der Gelbwestenkrise aber immer wieder aufgeschoben hatte.

Frankreich soll demnach das Umlageverfahren beibehalten, aber nach dem in Europa verbreiteten Punktesystem abrechnen, wie Philippe sagte: Für jeden verdienten Euro gebe es einen Punkt, dessen Geldwert das Parlament über die Jahre festlegen werde.

Sozialpolitische Revolution

Politisch explosiv war die Ankündigung des von den Konservativen zu Macrons Mittepartei übergetretenen Premiers, die 42 Spezialrenten im öffentlichen Dienst würden aufgelöst. "Die Zeit der universellen Rente ist gekommen, die der Spezialrenten abgelaufen", umschrieb Philippe diese sozialpolitische Revolution.

Heute noch gehen zum Beispiel Lokführer mit 52 Jahren in Rente; Beamte profitieren von einer günstigen Pensionsberechnung, zählen doch für sie die letzten sechs – meist besser entlohnten – Monate und nicht 25 Arbeitsjahre wie in der Privatwirtschaft.

Dass Eisenbahner oder Lehrer die gleiche Pension beziehen wie Personen aus der Privatwirtschaft, wäre in Frankreich vor kurzem noch undenkbar gewesen. Ein entsprechender Versuch der konservativen Regierung war 1995 nach wochenlangen Streiks gescheitert.

Übergang zur Einheitsrente

Philippe versicherte nun, er wolle den Übergang zur Einheitsrente "ohne Brutalität" vollziehen und die Kaufkraft aller Betroffenen garantieren. Vor allem die Frauen und kinderreichen Familien seien "große Gewinner". Für die soziale Gerechtigkeit sei auch sonst gesorgt: Die kleinste Rente werde in Zukunft mindestens tausend Euro betragen; für Einkünfte von jährlich mehr als 120.000 Euro würden hingegen höhere Beiträge berechnet.

Von der Allgemeingültigkeit des neuen Systems sieht die Regierung nur zwei Ausnahmen vor: "Gefährliche" Berufe wie Soldaten, Polizisten oder Feuerwehrleute sollen weiterhin vor 62 in Rente gehen; und für Lehrer sind Kompensationszahlungen vorgesehen, da ihre Renten durch die allgemeine Harmonisierung zum Teil stark sinken würden.

Über Sonderregelungen für die in erster Linie streikenden Eisenbahner und Pariser Metro-Angestellten verlor Philippe kein Wort. Er forderte sie nur auf, ihre harte Haltung abzulegen und in Verhandlungen einzutreten: "Ich will nicht, dass Frankreich auf eine Kraftprobe zusteuert."

Letztere ist allerdings schon seit einer Woche Tatsache. In ersten Reaktionen zeigten sich die radikaleren Gewerkschaften wie Force ouvrière unbeeindruckt von Philippes Auftritt. Die ehemals kommunistische CGT rief sogar dazu auf, "den Streik auszuweiten".

Rote Linie

CFDT-Chef Laurent Berger, der Macrons Universalrente bisher unterstützte, wirft der Regierung nun seinerseits vor, sie habe mit dem Reformplan "eine rote Linie überschritten". Das bedeutet wohl den Eintritt der an sich gemäßigten Gewerkschaft in den Arbeitskampf. Zumindest kurzfristig bewirkt die Präsentation des Rentenprojektes eine Versteifung und Radikalisierung der hauptbetroffenen Eisenbahner und zugewandter Berufsgattungen. Politologe Alain Duhamel sagte, Philippes Rede sei in sich durchaus überzeugend gewesen. "Umso weniger verstehe ich, dass er sie nicht schon vor Monaten gehalten hat. Jetzt kommt sie zu spät, droht sie doch Öl ins Feuer zu gießen."

Nicht nur vom Zeitplan her, sondern auch taktisch war die Rede ungeschickt. Philippe versicherte wie zuvor schon Macron, das in Frankreich geltende Rentenalter von 62 Jahren werde zwar nicht steigen. Hingegen müssten alle Franzosen "ein bisschen länger", nämlich bis 64 Jahre arbeiten, um in den Genuss einer vollen Rente zu kommen. Mit dieser Klarstellung verärgert und verunsichert Philippe auch die Mehrheit der privatwirtschaftlich versicherten Franzosen. Statt sie auf seine Seite zu ziehen, treibt er sie damit in das Lager der Streikenden. Das kann entscheidend sein: In letzter Instanz wird die öffentliche Meinung über den Erfolg oder Misserfolg des Rentenprojektes befinden.

Philippe meinte zwar, er gehe "mit Ruhe und Entschlossenheit" zu Werke. 1995 hatte sein Parteifreund und Premier Alain Juppé allerdings auch erklärt, er stehe "aufrecht in den Stiefeln" – um dann vor der Streikfront wenige Tage später in die Knie zu gehen (12.12.2019)