Lech Wałęsa im Jahr 1989.

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Marta Bucholc (41) ist Professorin für Soziologie im Käte Hamburger Kolleg "Recht als Kultur" an der Universität Bonn sowie an der Universität Warschau. Als Teilnehmerin der Tagung "Lost in Expectations" über Zukunftserwartungen des Jahres 1989 war sie kürzlich zu Gast in Wien.

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Bereits die ersten Erfahrungen mit demokratischen Mechanismen waren in ihrer Heimat holprig, erinnert sich die polnische Soziologin Marta Bucholc. Dass heute Rechtspopulisten Erfolge erzielen, führt sie auch auf sozial- und identitätspolitische Versäumnisse liberaler Regierungen zurück.

STANDARD: Vor welchem politischen und gesellschaftlichen Hintergrund vollzog sich die Wende des Jahres 1989 in Polen?

Bucholc: Natürlich gab es zentrale geopolitische Faktoren wie die Politik Michail Gorbatschows in der Sowjetunion. In Polen selbst war die moralische Kraft, die von der Gewerkschaft Solidarność ausging, eine wichtige Quelle der Transformation. Das waren ja nicht bloß ein paar Intellektuelle, sondern einfache Menschen mit einfachen Ideen, die von den Eliten in die Sprache der Politik und der Wirtschaft übersetzt wurden.

STANDARD: Eine große Breitenwirkung hatte auch die katholische Kirche.

Bucholc: Ja, als einzige relativ unabhängige Institution, die zudem internationale Verbindungen hatte, war sie während der gesamten kommunistischen Zeit extrem wichtig. Insgesamt spielten also sowohl die breiten Massen als auch die Eliten eine Rolle. Das widerspricht übrigens der These, dass die Transformation eine Elitenverschwörung war.

STANDARD: Sie waren 1989 elf Jahre alt. Welche Erinnerung verbinden Sie persönlich mit dem Umbruch von damals?

Bucholc: Vor der Präsidentschaftswahl 1990 dachten viele, dass es eigentlich keine Konkurrenz zu Lech Wałęsa geben könne, dem Kandidaten der Solidarność. Doch plötzlich tauchte ein völlig unbekannter Mann namens Stanisław Tymiński auf, der in den 1980er-Jahren als Emigrant in Kanada und Peru gelebt hatte. Auf mich wirkte er gefährlich. Er hatte eine steife Haltung, eine unangenehme Stimme, machte populistische Versprechen, die er nie hätte halten können – und schaffte es immerhin in die Stichwahl.

STANDARD: Dort hat dann allerdings Lech Wałęsa klar gewonnen.

Bucholc: Trotzdem war Tymińskis Erfolg in der ersten Runde eine große Überraschung. Man hat das später als Zufall abgetan oder als peinlichen Fehler. Das war es aber nicht, sondern es zeigte die Logik der Demokratie. Dass Demokratie gefährlich sein kann, ist nichts Neues, das schrieb schon Thukydides im "Peloponnesischen Krieg". Aber in Polen konnte man das tatsächlich sehr früh feststellen.

STANDARD: Polens Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) gilt als rechtspopulistisch, punktet aber auch mit sozialpolitischen Maßnahmen. Haben frühere liberale Regierungen hier versagt?

Bucholc: Die PiS benutzt tatsächlich Instrumente der Umverteilung, die in der politischen Tradition Europas eher mit linken Parteien verbunden sind – zum Beispiel die Einführung des Kindergeldes. Dass man in diesem Zusammenhang oft auf sozialpolitische Versäumnisse liberaler Regierungen hinweist, ist aber nur die eine Seite der Medaille. Es gibt auch noch einen zweiten Aspekt, nämlich Versäumnisse im Bereich der Erinnerungspolitik. Die PiS hat hier ein Niemandsland entdeckt – und erobert.

STANDARD: Sie sprechen von Kontinuität und Identität?

Bucholc: Ja. Auf diesem Gebiet gab es so gut wie keine Konkurrenz. Die ideologischen Investitionen der PiS in die Identitätspolitik haben sich sehr gut bezahlt gemacht.

STANDARD: Viele Menschen in Mittel- und Osteuropa haben den Eindruck, dass ihre Länder in der EU nicht als gleichwertige Partner angesehen werden. Gehört das auch zum polnischen Narrativ?

Bucholc: Ganz bestimmt. Genau wie der Vorwurf, dass liberale Eliten in Polen sich daran beteiligen. Im Parteiprogramm der PiS ist sogar von einer "postkolonialen" Mentalität heimischer Eliten die Rede. Diese würden die Nachahmung des Westens anstreben, statt die polnische Identität zu pflegen. Dasselbe sieht man auch in Ungarn. Und man darf nicht vergessen, dass auch Deutschland zum Teil ein postkommunistisches Land ist. Wenn man sich ansieht, wo die AfD gewinnt und welche Rhetorik sie benutzt, dann findet man auch dort das Element des Nationalstolzes, der eigentlich in Deutschland nur sehr schwer als politisches Postulat durchgeht.

STANDARD: Kritik von außen wird dann als Angriff auf den Nationalstolz und auf die eigene Identität interpretiert?

Bucholc: Ob man Identität auf der Basis von Stolz konstruieren muss, ist eine faszinierende psychologische Frage. Aber ich glaube, sie muss zumindest auf einer Form der Anerkennung basieren. Wenn man diese Anerkennung auf europäischer Ebene nicht bekommt, dann muss man eben eine Kompensation im eigenen Land schaffen. Das macht gerade die PiS. Ein Beispiel: Europa äußert sich heute etwa dazu, dass in Polen die Rechtsstaatlichkeit bedroht ist. Meiner Meinung nach stimmt das völlig, aber die PiS reagiert darauf mit einer Kampfansage an die "Schampädagogik".

STANDARD: Eine Schampädagogik des Westens?

Bucholc: Ja, aber wiederum eine, die die liberalen Eliten Polens angeblich imitieren. Diese Eliten wollen laut PiS die Gesellschaft beschämen – weil die Menschen nicht gut genug seien, nicht weltoffen genug, nicht unternehmerisch genug, nicht gebildet genug, nicht flexibel genug. Und das trifft bei vielen einen Nerv. (Gerald Schubert, 13.12.2019)