VfGH-Vizepräsident Christoph Grabenwarter verkündete die Entscheidung zur Sozialversicherungsreform.

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Vor genau einem Jahr war die türkis-blaue Welt noch in Ordnung. ÖVP und FPÖ beschlossen gemeinsam im Nationalrat trotz lautstarker Kritik von Opposition, Verfassungsjuristen und betroffenen Krankenkassen die umstrittene Sozialversicherungsreform. Türkis-Blau ist mittlerweile Geschichte, ihr Prestigeprojekt wurde wider Erwarten in weiten Teilen durch den Verfassungsgerichtshof bestätigt.

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Christoph Grabenwarter, Vizepräsident, aber interimistisch höchster Höchstrichter, verkündete am Freitag den Beschluss der zwölf Verfassungsrichter. 14 Beschwerden hatte es insgesamt gegeben. Die Fusion der neun Gebietskrankenkassen zu einer Österreichischen Gesundheitskasse sei rechtskonform, sagte Grabenwarter. Der Verfassungsgerichtshof könne nicht erkennen, dass durch die Reduktion von neun Kassen auf eine Kasse eine sparsame Verwaltung nicht möglich sei.

Auch der wichtigste Punkt der Beschwerde, die paritätische Besetzung des Verwaltungsrats der ÖGK, entspricht der Verfassung. In der Gesundheitskasse sind vorwiegend Angestellte versichert. Bisher spiegelte sich das auch in den Gremien wider, in denen die Arbeitnehmer einen deutlichen Überhang hatten. ÖVP und FPÖ wollten das ändern und Gleichstand zwischen Arbeitnehmern und -gebern schaffen.

Kühne Begründung

Laut Erkenntnis der Höchstrichter ist das auch möglich. Grabenwarter begründet das damit, dass es um eine demokratische Repräsentation gehe. Auch Dienstgeber seien Angehörige der gesetzlichen Sozialversicherung, damit werde die Selbstverwaltung nicht infrage gestellt. Grabenwarter verweist hier auch auf den rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Verfassungsexperte Theo Öhlinger findet diese Argumentation nicht nachvollziehbar. Im STANDARD-Gespräch erklärt er, dass es einen Unterschied zwischen Mitwirkung und Parität geben müsse. Die Verfassung sei bereits dahingehend geändert worden, dass es eben keinen Ausgleich zwischen Arbeitgeber und -nehmer gebe: "Das ist eine kühne Begründung", sagt Öhlinger.

Für verfassungswidrig erachten die Höchstrichter hingegen das Vorhaben, die Beitragsprüfung der Sozialversicherungsbeiträge an die Finanzbehörden auszulagern. Das sei unsachlich und widerspreche dem verfassungsrechtlichen Prinzip der Selbstverwaltung. Bis 1. Juli habe der Gesetzgeber Zeit, das zu reparieren. Auch die Bestimmung, dass Kassenfunktionäre eine externe Eignungsprüfung absolvieren müssen, ist nicht verfassungskonform.

Aufgehoben wurden einige Bestimmungen, mit denen die staatliche Aufsicht – und allen voran das Sozialministerium – in die Kassen hätte eingreifen können. Das betrifft etwa die Möglichkeit, auf die Tagesordnung Einfluss zu nehmen oder bestimmte Entscheidungen zu vertagen. Dasselbe gilt für Beschlüsse, die einen Betrag von zehn Millionen Euro innerhalb eines Kalenderjahres überschreiten. Auch hier hatte sich ÖVP und FPÖ auf eine staatliche Kontrollmöglichkeit geeinigt. Das ist aber für die Höchstrichter verfassungswidrig, denn es würde die gesamte Gebarung der Kassen betreffen, erklärt Grabenwarter: Es übersteige das Maß an Erforderlichem. Ebenfalls nicht gültig ist die Vorgabe, dass sich die Sozialversicherungen den Zielsteuerungsvorgaben des Sozialministeriums unterwerfen müssen. Auch wenn das Großprojekt Sozialversicherungsreform vom Verfassungsgerichtshof bestätigt wurde, Eingriffsmöglichkeiten verliert die Regierung trotzdem.

Türkis-blauer Jubel

Für ÖVP und FPÖ ist das Erkenntnis ein Grund zum Jubeln, beide Parteien sehen sich in ihrem Kurs bestätigt. Skeptisch bewerten das Rot und Pink. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner respektiert den Spruch, fügt aber hinzu: "Was verfassungsrechtlich möglich ist, muss nicht zwangsläufig gut sein." Ähnlich bewertet das Neos-Gesundheitssprecher Gerald Loacker: "Nur weil etwas nicht die Verfassung bricht, muss es nicht gute Politik sein." Es gebe immer noch eine Ungleichheit im System, da die ÖGK nur einen Teil der Bevölkerung versichere. Personen im öffentlichen Dienst würden bei ihrer Versicherung weiterhin bessere Leistungen erhalten. (Marie-Theres Egyed, 13.12.2019)