Kurz lacht Seán Binder auf. Ja, sagt er am Telefon zum Standard, das könnte wirklich aus einem schlechten Spionagekrimi stammen. Einen Moment später wird er wieder ernst. Sein Fall sei leider kein Film und auch kein Buch, sondern Realität. Sein Fall, das ist die unfreiwillige Wandlung vom Lebensretter für Flüchtlinge und Migranten hin zum angeblichen Spion.

Soweit bekannt, war Binders Leben bis zum 17. Februar 2018 frei von größeren Turbulenzen. Mit vier Jahren verließ seine Familie die deutsche Heimat und zog nach Irland. Die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt er weiterhin, seine Muttersprache beherrscht er aber kaum noch. Er bevorzugt es, auf Englisch zu reden.

Besuch von der Polizei

Besagter Tag vor etwa 22 Monaten brachte dann sein Leben ins Wanken. Binder, ausgebildeter Rettungsschwimmer, war auf der griechischen Insel Lesbos für die Hilfsorganisation Emergency Response Centre International tätig. Er koordinierte Rettungseinsätze für in Seenot geratene Flüchtlinge und Migranten an der Südküste.

Am 17. Februar war er für die Nachtschicht eingeteilt, erstmals mit der jungen Syrerin Sarah Mardini. Dann kam überraschend die Polizei, kontrollierte die Personalien, durchsuchte die Unterkunft und nahm die beiden Rettungsschwimmer schließlich mit.

Ein Foto aus jenen Zeiten, als Sarah Mardini und Seán Binder auf Lesbos als Rettungsschwimmer tätig waren.
Foto: Privat

Überraschend deshalb, weil die NGO eng mit den Behörden zusammenarbeitete, mit der griechischen Küstenwache und der Marine sowie dem europäischen Grenzschutz Frontex. "Das war auch der Grund, weshalb ich für diese Organisation gearbeitet habe", sagt Binder. Er wollte gesetzeskonform agieren. "Wir sind nur in See gestochen, wenn die Behörden uns gebeten haben. Wir haben sie auch über jeden Schritt von uns informiert. Das sieht man an meinen Telefondaten, die die Staatsanwaltschaft hat."

Festnahme am Flughafen

Einen Tag später wurden sie wieder freigelassen. Die Polizei teilte ihnen aber mit, dass weiter ermittelt werde. Trotzdem führten sie weitere Einsätze durch, bis sie am 21. August wieder festgenommen wurden. Mardini hatte man am Flughafen kurz vor ihrem Rückflug nach Deutschland angehalten. Dann folgten rund dreieinhalb Monate Untersuchungshaft.

Die Vorwürfe wiegen schwer: Binder, heute 25 Jahre alt, und Mardini, 24, werden unter anderem der Spionage, des Menschenhandels und der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verdächtigt. "Bei so ernsten Vorwürfen geht man davon aus, dass es handfeste Beweise gibt", sagt Binder. Doch vieles daran sei seiner Meinung nach nicht wahr, eigentlich sogar lächerlich.

In London statt auf Lesbos

Ein Beispiel: "Laut den Akten soll ich auf Lesbos am 12. Dezember 2017 Menschenhandel unterstützt haben", so Binder. "Aber an dem Tag war ich bei meiner Abschlussfeier an der London School of Economics und habe dem Dekan die Hand geschüttelt."

Der Spionagevorwurf basiert unter anderem darauf, dass die Retter verschlüsselte Kommunikation verwendet hätten. "Die Staatsanwaltschaft hat mich gefragt, warum ich das mache, wenn ich angeblich nichts zu verbergen habe. Die reden über Whatsapp!" Außerdem wurde ihnen vorgeworfen, ein Funkgerät zu besitzen, mit dem sie geheime Kommunikation der Behörden abgehört haben sollen. Binder sagt dazu: "Jedes Rettungsboot muss ein Funkgerät haben, um Notrufe mitzubekommen. Außerdem konnte unser Gerät nur offene Kanäle empfangen, vor allem Kanal 16, den Notrufkanal."

Nun warten sie in Berlin bzw. Dublin auf den Beginn ihres Prozesses in Griechenland.
Foto: Amnesty International

Im Dezember 2018 kamen beide auf Kaution frei. Binder vermutet, dass der öffentliche Druck die Behörden dazu veranlasst hat. Menschenrechtsorganisationen nahmen sich ihres Falls an, internationale Medien berichteten. Hilfreich war dabei der Bekanntheitsgrad von Sarah Mardini.

Im Sommer 2015 hatten sie und ihre jüngere Schwester Yusra es in die europäischen Schlagzeilen geschafft. Sie waren vor dem syrischen Bürgerkrieg geflohen und schließlich gemeinsam mit 18 weiteren Personen in einem Boot auf dem Weg von der Türkei nach Lesbos. Als sie in Seenot gerieten, zogen die beiden Leistungsschwimmerinnen das Boot stundenlang hinter sich her und brachten die anderen in Sicherheit.

Als Flüchtling bei den Olympischen Spielen


Ihr Weg führte schließlich nach Berlin. Yusra Mardini durfte als Mitglied des erstmalig antretenden Flüchtlingsteams bei den Olympischen Sommerspielen 2016 in Rio antreten. Sarah begann ein Studium der Kunst und Politik. Und dann ging sie zurück nach Lesbos, um zu helfen.

Nun wartet Seán Binder in Dublin und Sarah Mardini in Berlin darauf, ein weiteres Mal nach Lesbos zu fliegen. Vor kurzem wurden sie informiert, dass sie im Jänner dort vor Gericht erscheinen müssen. Es geht um einen weiteren Vorwurf gegen sie: Betrug.

Warum, ist Binder ein Rätsel. Klar ist ihm hingegen, weshalb die Staatsanwaltschaft das macht. "Sie will das Verfahren weiter und weiter verlängern", als Abschreckung. Es gehe darum, Menschen davon abzuhalten, Flüchtlingen und Migranten in Seenot zu helfen – denn das, so der Irrglaube, würde weitere Menschen anziehen. Binder erinnert daran, dass nicht nur gegen Mardini und ihn, sondern auch gegen ihre und andere auf Lesbos tätige NGOs vorgegangen wurde, bis hin zu Verhaftungen. "Wir sind kein Einzelfall in der EU. Menschen werden kriminalisiert, die Leben retten und Menschen in Not medizinisch versorgen."

Demo am 1. September 2018 in Athen für die Freilassung von Sarah Mardini und Seán Binder.
Foto: imago/Giorgos Zachos

Laut einer im Juni veröffentlichten und mit EU-Geldern finanzierten Studie der Plattform Resoma wurde zwischen 2015 und 2019 gegen 158 NGO-Mitarbeiter oder Freiwillige ermittelt: vorwiegend wegen des Verdachts des Menschenhandels, der Sabotage oder der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. 16 Hilfsorganisationen waren davon betroffen. Mardini und Binder sind also tatsächlich kein Einzelfall, man denke nur an die Schiffskapitäne Pia Klemp, Claus-Peter Reisch oder Carola Rackete.

Binders Schuldenberg

Auf Lesbos drohen ihnen bis zu 25 Jahre Haft. "Ich denke, die Behörden wissen, dass es keinen Schuldspruch geben wird, aber es ist trotzdem effizient", sagt Binder. Die Gerichtskosten steigen und steigen, und damit auch Binders Schulden. Schließlich studiert er noch. Bei einem Jobinterview wurde ihm gesagt, man könne ihn nicht einstellen, solange man nicht ausschließen kann, dass er ins Gefängnis muss.

Über die Zeit ebendort möchte Binder nicht reden, solange das Verfahren läuft. Nur so viel: "Es war schrecklich und frustrierend zugleich, weil ich ja überhaupt nichts falsch gemacht habe."

Unsichere Zukunft

Unterstützung gibt es weiterhin, unter anderem von Amnesty International in Form eines weltweiten Briefmarathons, bei dem man sich mit den Betroffenen solidarisieren konnte. "Die Schulden, die unsichere Zukunft, das lähmt", sagt Binder trotzdem. Doch auch etwas anderes stört ihn. "Ich bin privilegiert, man hört mir nun zu, viele interessieren sich für meinen Fall. Aber keiner schreibt die Geschichten über jene, die weiterhin im Mittelmeer ertrinken. Weil niemand sie zu hören bekommt."

Ob er es angesichts der schwerwiegenden Folgen bereue, auf Lesbos geholfen zu haben? Die Frage sei ihm schon öfter gestellt worden, sagt Binder. Er habe stets geantwortet: "Was gibt es zu bereuen, wenn ich zu verhindern versuche, dass Menschen ertrinken?" (Kim Son Hoang, 16.12.2019)