In diesen Tagen spürt der durch familiäre und berufliche Bande mit Großbritannien eng verbundene Besucher in London in den Gesprächen und in den Medien immer wieder historische Momente. Ein machthungriger, charismatischer Hasardeur hat alles riskiert und alles gewonnen. Boris Johnson (55), den man in seiner konservativen Partei und in der Publizistik öffentlich und ungestraft einen Lügner und Betrüger nannte, genießt dank seines fulminanten Sieges fast uneingeschränkte Autorität in der Regierungspartei.

Dreieinhalb Jahre nach dem Referendum bedeutet Johnsons Sieg mit der Botschaft "Get Brexit done!" den endgültigen Austritt aus der EU. Jetzt werden noch mehr verunsicherte Briten mit deutschen, österreichischen, spanischen, polnischen, rumänischen und so weiter Ahnen versuchen, einen EU-konformen ausländischen Reisepass zu ergattern.

Victoria Tower des Houses of Parliament in London.
Foto: APA/AFP/TOLGA AKMEN

Es wird allerdings oft übersehen, dass die Mehrheit der Briten Parteien gewählt hat, die eher für ein zweites Referendum waren. In Schottland haben drei Viertel der Wähler, in Nordirland 70 Prozent gegen den Brexit gestimmt. Die anderen Parteien waren Opfer des traditionellen Systems, das in jedem Wahlkreis nur einen Sieger kennt, die Stimmen aller Rivalen fallen unter den Tisch. So konnte Johnson mit 43 Prozent der Stimmen eine absolute Mehrheit mit einem Überhang von 80 Sitzen im Unterhaus gewinnen.

Fehlende Oppositionspartei

Zu Recht warnen bereits jetzt angesehene Leitartikler, der Preis für den Brexit dürfe nicht der Zerfall Großbritanniens sein. Persönliche Eindrücke und Wahlberichte bestätigen die Diagnose des irischen Autors Fintan O’Toole: "Wer sich als englisch identifiziert, hat auch sehr wahrscheinlich für den Brexit gestimmt. Wer sich als britisch versteht, hat eher dagegen gestimmt. Brexit ist die einzige konkrete Form, in der sich der englische Nationalismus zeigt. Die Tory-Partei ist nicht mehr konservativ, sie ist eine populistische, nationalistische Partei." Es ist fraglich, ob das Vereinigte Königreich infolge der wohl unausweichlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Turbulenzen nach dem endgültigen Austritt aus der EU als Einheit überleben können wird.

Johnson verdankt seinen Triumph vor allem den Stimmen der enttäuschten Labour-Anhänger in den Stammbezirken in den Midlands und im englischen Norden. Jeremy Corbyn, der unpopulärste Parteichef in der Labour-Geschichte, fuhr mit dem Verlust von 60 Mandaten das schlechteste Wahlergebnis seit 1935 ein. Dem Land fehlt damit eine ernstzunehmende Oppositionspartei in der kritischen, am 31. Jänner beginnenden, elfmonatigen Übergangsphase, an deren Ende ein in dieser kurzen Zeit kaum machbares Handelsabkommen mit der EU stehen soll. Die Selbstzerstörung der Arbeiterpartei und das enttäuschende Abschneiden der Liberaldemokraten schaffen in den nächsten fünf Jahren eine fast beispiellos günstige Manövrierfähigkeit für den unberechenbaren, skrupellosen und für seinen Machterhalt zu allem fähigen Regierungschef.

Das ganze Ausmaß des Brexit-Abenteuers wird erst ab dem 1. Jänner 2021 langsam sichtbar und damit auch die Gefährlichkeit des Hasardeurs in 10, Downing Street. (Paul Lendvai, 17.12.2019)