Vergangenen Sonntag marschierten zum Gedenken an den Revolutionsbeginn am 16. Dezember 1989 hunderte Menschen durch Timișoara.

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Es begann mit einer Solidaritätsgeste. Zunächst demonstrierten Bürger in Timișoara dagegen, dass Pastor László Tokés zwangsumgesiedelt werden sollte. Tokés hatte im Sommer 1989 im ungarischen Fernsehen Diktator Nicolae Ceaușescu kritisiert. Im Herbst war die Geheimpolizei Securitate alarmiert, weil die Revolutionen in den Nachbarstaaten wie Vorzeichen für den eigenen Machtverlust wirkten.

Vor dem Haus Tokés‘ versammelten sich ab dem 16. Dezember immer mehr Menschen zur Mahnwache. Einige Demonstranten versuchten, das Parteihaus der Kommunisten niederzubrennen. Straßenkämpfe begannen, mehrere Protestierende schnitten das Emblem der kommunistischen Partei aus den rumänischen Flaggen.

Am Tag darauf wurde die Armee eingesetzt, am Abend wurde scharf geschossen. 72 Menschen wurden allein in Timișoara getötet. Doch die Leute skandierten weiter: "Die Armee ist auf unserer Seite! Ceaușescu wird gestürzt." Als der Diktator wenige Tage später aus dem Iran zurückkam, versuchte er am 21. Dezember mit einer Rede vom Balkon des Zentralkomitees in Bukarest die Macht des Regimes wieder zu festigen.

Fernsehrevolution

Doch das Gegenteil geschah. Die Parteiveranstaltung endete in Sprechchören. "Timișoara!" klagten die Leute das Regime an, und das Fernsehen übertrug live Bilder des nervös gewordenen "großen Conducators" und "Genies der Karpaten", der einen Tag später mit einem Helikopter vom Dach des Hauses floh. Immer mehr Menschen versammelten sich in Bukarest. Die Armee war bereits übergelaufen und verurteilte am 25. Dezember Ceaușescu und seine Frau Elena zum Tode.

Doch andere Stützen der Diktatur versuchten, die Demokratisierung aufzuhalten. Scharfschützen der Securitate schossen vier Tage lang auf Demonstranten in Bukarest. Der Spuk war erst am 27. Dezember vorbei. Bis heute ist offen, wer zu verantworten hat, dass nach dem Sturz Ceaușescus 942 Rumänen getötet wurden.

Es gab viele Verfahren in den vergangenen 30 Jahren. Im November hat nun ein neuer Prozess begonnen, der offene Fragen endlich klären soll. Angeklagt sind auch der ehemalige Präsident Ion Iliescu und der ehemalige Vizepremier Gelu Voican Voiculescu wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Offen ist, ob der 89-Jährige Iliescu im Falle einer Verurteilung überhaupt eine Haftstrafe verbüßen wird können.

Prozess gegen Iliescu

Die Politologin Lavinia Stan meint, dass es nun zentral sei, herauszufinden, wer die Schießbefehle gab. "Viele Rumänen glauben, dass Iliescu für diese Verbrechen verantwortlich ist, weil er es war, der diese Zeit der Verwirrung und des Chaos angeheizt hat", meint Stan zum Standard. Offen sei auch, ob Ceaușescu Bankkonten hatte, auf die Iliescu und die Streitkräfte nach dessen Entmachtung zugegriffen haben.

Aufzuklären sind laut Stan die Beteiligung spezieller Scharfschützen und Securitate-Truppen an der Tötung der Demonstranten, die mögliche Teilnahme ausländischer Agenten, die Befehlskette zwischen der Kommunistischen Partei und der Securitate, die Beteiligung der Kommunistischen Partei an dem Chaos und den Morden, die Verbindungen zwischen Iliescu und Moskau und jene zwischen dem KGB und der Securitate. Viele Akten zur Securitate sind nach wie vor unter Verschluss.

Zwischen Deutschland und Russland

Rumänien befände sich in Sachen juristischer Aufarbeitung irgendwo zwischen Deutschland, das versuchte, möglichst viele Prozesse zu führen, und Russland, das fast nichts unternahm, resümiert Stan. Vieles wurde auch versäumt. Weil es keine Vorkehrungen gab, politisch belastete Mitarbeiter aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen, wurden Täter in Machtpositionen gewählt, die die postkommunistische Demokratie gestalteten und die Rechtsstaatlichkeit untergruben. Erst kürzlich wurde Ex-Präsident Traian Băsescu als ehemaliger Securitate-Mitarbeiter enttarnt.

"Die Straflosigkeit hat die Unterschiede zwischen Tätern und Opfern verwischt", meint Stan, die in Kanada lehrt. Deshalb würden manche denken, dass alle Rumänen irgendwie an der Repression schuldig seien, "weil wir alle das Regime irgendwie durch unsere Handlungen oder unser Schweigen unterstützt haben". Andere argumentierten, dass niemand schuldig sei. "Der Prozess könnte den Rumänen nun helfen, anhand von Fakten zwischen den Schattierungen von Kollaboration und Opposition, der Verantwortung für die Vergangenheit oder deren Fehlen zu unterscheiden", analysiert die Expertin für Postkommunismus. Wichtig sei jedenfalls, dass durch ein Ende der Straflosigkeit für die Schuldigen auch die Rechtsstaatlichkeit gestärkt und die Öffentlichkeit über die früheren Menschenrechtsverletzungen aufgeklärt werde. Schließlich ginge es auch darum, die Opfer anzuerkennen.

Fehlender Unterricht

Vieles bleibt aber noch zu tun: In Rumänien gibt es laut Stan zwar einige Gedenkstätten – ehemalige Gefängnisse –, die an die Verbrechen der Kommunisten erinnern, aber kein Museum, das die Revolutionszeit darstellt. Auch in Schulbüchern geht es eher um die Diktatur als um die Zeit der Wende. (Adelheid Wölfl, 17.12.2019)