Medizinische Probleme werden schnell als Notfälle eingestuft: Die Gesundheitshotline 1450 gibt Hilfesuchenden erste Auskunft und eine Empfehlung, wohin sie sich wenden sollen.

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"Wie hoch ist der Puls?", fragt die Stimme ins Telefon.

"144."

"Hat Ihre Gattin Atembeschwerden?", will sie jetzt wissen. Die Worte klingen klar und deutlich. Sie wecken Vertrauen.

"Verspürt sie Brustschmerzen?"

Ein Montag im November, 17.39 Uhr, draußen ist es schon dunkel. Drinnen, irgendwo in Niederösterreich, hält ein bangender Ehemann den Hörer ans Ohr. In erstaunlich ruhigem Tonfall beantwortet er eine Frage nach der anderen.

Die vertrauensvolle Stimme, die so viele Fragen stellt, gehört Doris Trescher. Die 31-Jährige ist diplomierte Krankenpflegerin und Mitarbeiterin der Gesundheitsberatung 1450 in St. Pölten. Nach dem Gespräch nimmt sie ihr Headset ab, dreht ihren Kopf zur Seite und erklärt: "Die 73-jährige Frau des Anrufers ist bettlägrig, hat eine Lungenerkrankung und hängt am Sauerstoff." Als sich ihr Zustand akut verschlechterte, griff ihr Mann zum Telefon und wählte 1450.

Die Hilfe kommt aus dem dritten Stock eines modernen, holzverkleideten Gebäudes mit langgezogenen, niedrigen Fenstern: die Zentrale der Notruf Niederösterreich GmbH. In einem der Räume sitzt Trescher auf ihrem Drehsessel, vor sich zwei Bildschirme. Am Schreibtisch: Wasserkrug, Handy, Schlüsselbund. Eine blaue Trennwand schirmt ihren Arbeitsplatz von jenen der anderen Mitarbeiter ab.

Erste Anlaufstelle

Die Hotline 1450 mit dem Slogan "Die schnelle Hilfe am Telefon" ist seit November 2019 flächendeckend in Österreich erreichbar. Wer die Telefonnummer wählt, bekommt eine professionelle Auskunft darüber, wie rasch er sich um sein gesundheitliches Problem kümmern und wohin er sich damit wenden soll. Mitarbeiter wie Doris Trescher geben Empfehlungen, Diagnosen stellen sie nicht. Alle sind diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger mit mehrjähriger Berufserfahrung und spezieller telemedizinischer Schulung.

1450. Das sind vier Ziffern, in denen eine große Hoffnung mitschwingt: die überfüllten Ambulanzen zu entlasten. Allein schon die Aufzeichnungen der Ärztekammer zeigen, wie dringend das nötig ist: Die Zahl der eingelieferten Fälle ist zwischen 2005 und 2018 um 38 Prozent gestiegen. Im Jahr 2018 wurden mehr als neun Millionen Ambulanzfälle dokumentiert. Kann die Hotline dem Ansturm auf die Ambulanzen entgegenwirken?

Erste Einschätzung

In erster Linie ist das Ziel ein anderes, betont man in St. Pölten. Nämlich: Anrufer mit akuten gesundheitlichen Problemen dorthin zu leiten, wo ihnen am schnellsten und wirksamsten geholfen wird. Das ist nötig, bestätigen Experten, weil viele Menschen den eigenen Gesundheitszustand schlecht einschätzen können. Beim Notruf 144 anzurufen erscheint zu oft als die einfachste Lösung. Das blockiert zum Teil aber Ressourcen, die für wirkliche Notfälle gebraucht werden.

"Studien zeigen, dass es viele Menschen gibt, die Hilfe brauchen, um sich im Gesundheitssystem zurechtzufinden", erklärt Joachim Gerich, Gesundheitssoziologe an der Johannes-Kepler-Universität Linz. Je nach Messung hat rund die Hälfte der Bevölkerung eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz. Viele können weder ihre Symptome interpretieren, noch wissen sie, wohin sie sich wenden sollen. "Diese Personen sind stark darauf angewiesen, in der Navigation unterstützt zu werden."

Wie dieses Navigieren in der Praxis gelingt, macht der nächste Fall in der Gesundheitsberatung 1450 klar. Am Computerbildschirm blinkt es rot auf, das Zeichen für einen Anruf. Diesmal greift Mitarbeiter Patrick Mangeng zu seinem Headset und hebt ab. Das Problem: Ein Mann hat sich am Vortag einen Nerv im Rücken eingeklemmt. Er war bereits beim Hausarzt und verspürt jetzt ein Knacken im Brustkorb. Kann das ein Pneumothorax sein?, will er wissen. Nach einer detaillierten Befragung beruhigt ihn Mangeng und sucht die Adresse eines niedergelassenen Arztes in der Umgebung heraus, der abends geöffnet hat. "Ich schicke Ihnen die Telefonnummer per SMS." Noch vor knapp drei Jahren wäre der Ablauf anders gewesen: Der Herr hätte vermutlich den Notruf kontaktiert und einen Rettungswagen angefordert.

Was der Algorithmus kann

Im Haus mit den niedrigen Fenstern werden häufig Fragen gestellt wie "Erzählen Sie mir, was passiert ist?", "Wie lange haben Sie die Schmerzen schon?" oder "Verspüren Sie ein Schwindelgefühl?". Die insgesamt 3.500 Frageoptionen des standardisierten Computersystems basieren auf einem qualitätsgesicherten Algorithmus. Was bis vor ein paar Jahren nur bei Notfällen möglich war, gibt es somit auch im sogenannten niedrigschwelligen Bereich. Mittlerweile gibt es in den meisten Bundesländern die Möglichkeit, Anrufe vom Notruf 144 auf 1450 weiterzuleiten. In Niederösterreich kamen in diesem Jahr beispielsweise rund 20 Prozent der Anrufer über den Notruf, nachdem die Dringlichkeit abgeklärt worden ist.

Im Durchschnitt gehen pro Bundesland zwischen 200 und 7.600 Anrufe pro Monat bei 1450 ein. Seit dem Start der Pilotphase im Jahr 2017 ergaben sich aus den österreichweit 266.000 Anrufen 187.000 tatsächliche Beratungsgespräche. Die restlichen Gespräche waren unter anderem Auskünfte zu Öffnungszeiten. Die häufigsten Beschwerden sind Erbrechen, abdominale Schmerzen, Rücken- oder Kopfschmerzen sowie Brustschmerz. In knapp 60 Prozent der Fälle wird auf einen niedergelassenen Arzt verwiesen. In welchem Zeitraum der Arztbesuch erfolgen soll und welche Ordination geöffnet hat, erklären die Mitarbeiter am Telefon ebenfalls. Rund 20 Prozent der Anrufer empfehlen sie, ein Spital aufzusuchen, in 13 Prozent der Fälle schicken sie einen Rettungswagen. Zusätzlich werden Tipps zur Selbstversorgung gegeben, die in rund sechs Prozent auch ausreichen.

Beruhigen und entwarnen

In der Hotline-Zentrale in St. Pölten wird jeder Anrufer ernst genommen. Auch Menschen, die nach geeigneten Verhütungsmitteln fragen. Oder jene etwa 90-jährige Frau, die einmal behauptete: "In meinem Blumenkisterl sitzt ein Tiger." Was komisch klingt, könnte ernstzunehmende Hintergründe haben, etwa Dehydrierung oder eine Demenzerkrankung. Die Frau war damals allein zu Hause, der Rettungsdienst ging der Sache nach. Immer wieder stellt sich auch heraus, dass nicht ein medizinisches, sondern ein soziales Problem der Grund für den Griff zum Telefon ist. Deswegen wird eng mit der Sozialarbeit kooperiert.

Fälle wie diese zeigen: Das aktive Zuhören und Beruhigen sind zentrale Funktionen der Gesundheitsnummer. Ein Beratungsgespräch dauert im Schnitt zwischen zehn und 15 Minuten, in Niederösterreich sind es exakt 13 Minuten und 29 Sekunden. "Die Menschen sind froh, dass sich endlich jemand so lange Zeit für sie nimmt", sagt Christof Constantin Chwojka, Geschäftsführer der Notruf Niederösterreich GmbH. Nachsatz: "Im Gesundheitsbereich ist man das nicht gewohnt." Zeit für ihre Patienten müssen sich auch die Ärzte in den Spitälern nehmen. Eine Aufgabe, die zunehmend schwieriger wird.

Hohes Patientenaufkommen

Es ist gerade still an diesem Dienstagvormittag in der Notaufnahme des Uniklinikums St. Pölten. Zu hören ist nur das Summen des Klimageräts, ab und zu ertönt eine Durchsage. Noch kurz zuvor war das anders: Herzinfarktpatient mit Hubschrauber, Bluthochdruckkrise – das Übliche. Die Notaufnahme ist ein breiter Gang, an jeder Seite vier Schiebetüren. Auf einer von ihnen klebt in roten Blockbuchstaben das Wort "Patientenbegutachtung".

In dem Raum sitzt eine Ärztin in grüner OP-Kleidung am Schreibtisch und gibt Daten in den Computer ein. Sie blickt nur kurz auf, während sie über die hohen Patientenzahlen klagt. Eine Entlastung ist ihrer Wahrnehmung nach nicht zu spüren – 1450 hin oder her. "Innerhalb von 24 Stunden kommen mittlerweile zwischen 90 und 120 Personen, zunehmend mit Bagatellbeschwerden", berichtet sie. Dazu gehören zum Beispiel seit Monaten bestehendes Bauchweh oder ganz kurzfristig auftauchende Symptome wie Fieber. In solchen Fällen müsse man jedes Mal von vorne anfangen, weil man die Vorgeschichte nicht kenne, sagt der Kollege neben ihr, "das nimmt sehr viel Zeit in Anspruch."

Überfüllte Ambulanzen und Ärztemangel

Gegenüber, in der Unfallambulanz, werden in erster Linie Oberschenkelhalsbrüche und Kreuzbandrisse versorgt. Auch hier behandelt man immer wieder Patienten mit einfachen Schürfungen oder kleinsten Schnittverletzungen, berichtet ein Arzt, während er auf einem Bildschirm das Röntgenbild eines Knies begutachtet. Aus Haftungsgründen wird in den Ambulanzen kein Patient abgelehnt. Außerdem gebe es "zu wenig Alternativen, wo man diese hinschicken könnte", heißt es von der Ärztekammer.

Sehen viele Menschen schlichtweg keinen anderen Weg als jenen ins Spital? "Die Patienten gehen nicht gerade freiwillig in die Ambulanz, sondern werden vom System geradezu in diese stationären Einrichtungen gedrängt." Das sagt einer, der es wissen muss: Gerald Bachinger ist Patientenanwalt in Niederösterreich und Sprecher der österreichischen Patientenanwälte.

Als Gründe dafür nennt er mitunter den Mangel an niedergelassenen Ärzten, die wenig alltagstauglichen Öffnungszeiten und fehlende Bereitschaftsdienste am Wochenende. Die Primärversorgung breche zunehmend weg. Die Ordinationen von Haus- und Fachärzten seien voll, Patienten müssten lange warten, um dann eine "Drei- oder Fünf-Minuten-Medizin" zu bekommen. "Viele denken sich: Warum soll ich stundenlang warten, um nach fünf Minuten beim Arzt erst recht überwiesen zu werden?"

Versorgungslücke stopfen

Spätestens an diesem Punkt wird klar: Eine Gesundheitsnummer wie 1450 kann Patienten zwar bis zu einem gewissen Grad zum "Best Point of Service" navigieren, wie es in der Fachsprache heißt. Somit birgt sie das Potenzial, dass Gesundheitsdienste ein Stück weit zielgerichteter und effizienter in Anspruch genommen werden. Die Lücken im Gesundheitssystem kann die Telefonhotline freilich nicht füllen. Hier stößt sie an ihre Grenzen.

Die Mitarbeiter können nur auf Dienste verweisen, die tatsächlich angeboten werden, und auf Arztpraxen, die zum benötigten Zeitpunkt geöffnet haben. "Ich sehe das mit großer Sorge. Das ist keine Kritik an 1450, sondern an der Primärversorgung allgemein", sagt Patientenanwalt Bachinger. Auch die Ärztekammer befürwortet die Nummer 1450 grundsätzlich, um die "Situation etwas zu verbessern". Die Hotline sei aber keine Gesamtlösung der strukturellen Probleme.

Um diese anzugehen, stellen viele Seiten viele Forderungen. Der Tenor: Der niedergelassene Bereich muss ausgebaut werden, um flächendeckend Alternativen zu den Ambulanzen zu schaffen. Ein Beispiel für so ein Projekt ist die allgemeinmedizinische Akutordination (AKA), die dem AKH Wien vorgelagert ist und vom Ärztefunkdienst betrieben wird. Neue Wege werden auch in Niederösterreich beschritten: Schon ab dem Jahr 2020 wird es "fahrende Notfallspezialisten" geben. Die mobilen diplomierten Pflegepersonen mit höchster Rettungsdienstausbildung kommen dorthin, wo Hilfe gebraucht wird und eine Fahrt ins Krankenhaus nicht nötig ist.

Wie Telefon-Hotline wirkt

Auch abseits dieser Grunddebatte bleibt die Frage offen, in welchem Ausmaß eine Telefonhotline dazu in der Lage ist, Patientenströme zu lenken. Gerne wird dabei auf andere europäische Länder wie die Schweiz oder Großbritannien verwiesen, in denen dieses Modell etabliert ist. In Österreich gibt es bis jetzt nur einzelne Schlussfolgerungen, aber keine umfassenden Ergebnisse.

Der Hauptverband der Sozialversicherung hat die Telefonanrufe mit den tatsächlichen Arztkontakten verglichen. Es zeige sich österreichweit "eine hohe Bereitschaft, die Empfehlung einzuhalten". Rund 70 Prozent der Anrufer würden dem Rat der Hotline-Mitarbeiter folgen. Allein in Niederösterreich spricht man von hochgerechnet rund 15.000 verhinderten Rettungsfahrten im Jahr 2019.

Der Gesundheitsökonom Martin Halla relativiert diese Einzelaufnahmen. Seine Einschätzung: Ob die Ambulanzen durch die Hotline entlastet werden, lässt sich aktuell überhaupt nicht seriös beantworten. Halla war an der ökonomischen Evaluierung des Pilotversuchs von 1450 als wissenschaftlicher Berater beteiligt. Der Hauptverband der Sozialversicherungsträger hatte die Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) damit beauftragt, die Ergebnisse aber nicht veröffentlicht. Das Einzige, was man mit Sicherheit sagen kann: Wenn 15 bis 20 Prozent der Anrufer aufgrund einer Empfehlung von 1450-Mitarbeitern einen günstigeren Behandlungsweg wählen, als sie es sonst getan hätten, dann rechnet sich die Hotline ökonomisch. Das heißt, dass sowohl private als auch öffentliche Kosten gespart werden. Der Haken daran: "Niemand weiß, was die Leute ohne die Nummer getan hätten", sagt Halla. In welchem Ausmaß die Spitäler durch die Hotline entlastet werden, bleibt vorerst offen. Bei der nächsten Auswertung lässt sich vermutlich mehr sagen.

Erste Beratungshilfe

Dass 1450 sinnvoll ist, steht trotzdem außer Frage: Die Mitarbeiter nehmen sich Zeit für die Anrufer und hören ihnen zu. Sie ordnen ihre Beschwerden richtig ein. Und: Sie sorgen dafür, dass jeder Mensch das bekommt, was er im Moment braucht. Das kann ein Besuch beim Hausarzt genauso sein wie der Weg in die Ambulanz.

So wie im Fall des älteren Herrn, der sich an einem Montag irgendwo in Niederösterreich Sorgen um seine kranke, 73-jährige Frau macht. Die Sache ist klar: Atembeschwerden, Bluthochdruck, erhöhter Puls. "Ich schicke Ihnen gleich die Rettung", spricht Mitarbeiterin Doris Trescher ins Headset. "Achten Sie darauf, dass Ihre Frau jetzt nichts mehr isst oder trinkt. Bringen Sie sie in eine angenehme Position. Sperren Sie die Haustür auf, schalten Sie die Außenbeleuchtung an, und legen Sie die Medikamente bereit. Wenn sich die Situation verändern sollte, rufen Sie jederzeit wieder an." Nach zwei Minuten ist das Gespräch zu Ende. Kurz darauf blinkt es am Bildschirm erneut rot auf. Der nächste Anruf geht ein. (Maria Kapeller, 26.12.2019)