Die Koalitionsverhandlungen haben Vorrang. Vorrang auch vor den Feiertagen. ÖVP-Chef Sebastian Kurz will sich keine Zeit lassen, eine längere Verhandlungspause ist nicht vorgesehen. Am Freitag wird noch intensiv verhandelt, am Wochenende soll es zumindest weitere Gespräche geben. Hört man in die ÖVP hinein, gewinnt man den Eindruck, die Verhandlungen seien schon so gut wie abgeschlossen. Die wesentlichen Punkte seien ausgeräumt, heißt es, und ganz konkret: Am Wochenende, am Sonntag, soll der erzielte Durchbruch verkündet werden.
Das ergäbe einen sehr straffen Zeitplan. Am Wochenende also würde der Durchbruch verkündet, dann könnten die Grünen gleich ihren Bundeskongress einberufen, der den Koalitionspakt absegnen soll. Dieser Bundeskongress, dem 276 Leute angehören, hat zumindest eine Woche Vorlaufzeit. Er könnte theoretisch also am Wochenende des 28. und 29. Dezember tagen – und der türkis-grünen Koalition seinen Sanktus geben. In den darauffolgenden Tagen könnten die potenziellen Regierungsmitglieder bereits den Gang zum Bundespräsidenten antreten, um ihre Angelobung vorzunehmen – am 30. oder 31. Dezember oder in der ersten Jännerwoche.
Türkise Träume
So malen sich das einige türkise Funktionäre aus. Auf grüner Seite ist man allerdings mehr als skeptisch, ob das halten kann. Offenbar gehe es Kurz und seinem Team darum, Druck zu erzeugen, das sei durchaus eine gängige Methode der Verhandlungsführung. Aber: Es wird so lange verhandelt, wie wir verhandeln müssen, heißt es auf grüner Seite. Und ja, die Verhandlungen laufen gut und seien konstruktiv, aber von einem Durchbruch sei man doch noch ein gutes Stückchen entfernt. Mit dem jetzigen Verhandlungsstand könnte man dem grünen Bundeskongress kein Paket vorlegen, das dort Zustimmung fände.
Auf ÖVP-Seite räumt man immerhin ein, dass noch ein gutes Stück Arbeit vor den Verhandlungsteams steht – allerdings schon auf höchster Ebene. Die Untergruppen würden demnach nur noch bei offenen Fachfragen hinzugezogen. Inhaltlich sei alles besprochen, die Einigung sei aber noch auszuhandeln. In vielen Bereichen gebe es bereits Ergebnisse, an deren Verschriftlichung werde auch schon eifrig gearbeitet.
In nahezu allen zentralen Bereichen seien aber noch Punkte offen. Das betreffe vor allem die grünen Kernthemen Klimaschutz, Transparenz und Kontrolle sowie die Frage der Gerechtigkeit. Das sind im Wesentlichen Steuerfragen, aber auch die Armutsbekämpfung.
Schwierige Sozialhilfe
Ein heikler Punkt dabei ist die neue Sozialhilfe, deren zentrale Teile vom Verfassungsgerichtshof gekippt wurden. Sowohl die geforderten Sprachkenntnisse als Voraussetzung für den Bezug der vollen Sozialhilfe wie auch die abnehmende Unterstützung pro Kind waren von den Grünen kritisiert worden. Kurz wollte das ursprünglich keinesfalls ändern. Jetzt müssen ÖVP und Grüne darüber verhandeln, wie eine Reparatur des Gesetzes ausschauen könnte und was man den Bundesländern darin vorschreibt. Das ist auch im Fall des rot-grünen Wien schwierig, das sich gegen die Vorgaben von Kurz gewehrt hatte. Die grüne Vizebürgermeisterin Birgit Hebein ist mit im Verhandlungsteam – und recht motiviert. Sie empfindet keinen Zeitdruck.
Und dass man jene 276 Delegierten, die auf dem grünen Bundeskongress stimmberechtigt sind, zwischen Weihnachten und Neujahr zu einem Wochenendtermin nach Wien beordert, gilt bei aller Priorität, die man der Regierungsbeteiligung einräumt, als unwahrscheinlich, weil realitätsfern. Und das wollen sich die Grünen doch nicht nachsagen lassen. (Sebastian Fellner, Michael Völker, 19.12.2019)