Wenn die Angst bei Mia* überhandzunehmen droht, stellt sie sich vor, wo die Angst sitzt. Welche Farbe und welche Form sie hat. Die Angst könnte dann zum Beispiel ein silberner Würfel sein. "Und wenn ich dann hinspüre, merke ich vielleicht, dass sie eigentlich aus kleinen Kügelchen besteht", sagt die 33-Jährige. So versucht sie die Symptome willkommen zu heißen, sich abzulenken. Gleichzeitig entsteht die Chance, dass die Angst sich verflüchtigt. Es ist nicht leicht umzusetzen. Denn die Angst kommt meistens vor Besprechungen oder Präsentationen und immer dann, wenn Mia vor Gruppen reden soll.

Mia leidet unter Soziophobie. Sie spricht bewusst von einem Leiden, sagt aber, sie habe gelernt, damit zu leben. Der Unterschied zur durchschnittlichen Schüchternheit liegt für sie im Leidensdruck der Betroffenen.

Mia ist froh darüber wenn sie gefragt wird, wie es ihr geht.
Foto: Regine Hendrich

Etwa ein Fünftel der Österreicher leidet laut einer EU-Studie an psychischen Krankheiten. Den größten Teil davon machen Angsterkrankungen aus. Auch Soziophobie, wie im Fall von Mia, fällt darunter. Jeder zehnte Österreicher ist, so wie Michael, von Depressionen betroffen. Wie ist das in der Zeit der Besinnlichkeit? Einer Zeit, die eigentlich mit Ruhe assoziiert wird, aber im Trubel versinkt, eine Zeit, in der scheinbare Perfektion den Alltag durchdringt?

Medikamente im Winter

Michael nahm heute Morgen 30 Milligramm Duloxetin, einen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, der vielen depressiven Menschen hilft, nicht in ein Loch zu fallen. Ein Jahr hat es gedauert, bis seine Neurologin und er die richtige Medikamentenkombination fanden – die einen machten ihn quirlig, die anderen hatten zu viele Nebenwirkungen. Vielleicht braucht er die Tablette gar nicht mehr, überlegt Michael. "Aber jetzt ist die schlechteste Zeit, es zu probieren", sagt er und deutet auf das Fenster hinter sich. Es ist halb fünf, beinahe dunkel. Und dann kommt zur Dunkelheit noch der Weihnachtsabend dazu.

Stress, Geschenke, Familienprobleme. "Bis heute kommt da so ein Gefühl", sagt Michael und legt seine Hände auf den Brustkorb, die Finger verkrampft. "Da streitet dann vielleicht wieder der eine Opa mit dem anderen, und ich denk nur, hoffentlich kann ich da bald raus." Also schaute er, dass er rauskam. Dieses Weihnachten wird Michael nur mit seiner Ehefrau feiern, Geschenke gibt es bei ihnen schon lange nicht mehr.

Anstieg der Anfragen im Jänner

Beim sozialpsychiatrischen Notdienst merkt man um Weihnachten keinen Anstieg in den Anfragen, der kommt erst im Jänner. "Klar ist, dass Menschen zu Weihnachten einsam sind oder es mehr spüren", sagt Ewald Lochner, Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien.

Ebenso schädlich ist es, wenn wegen der vermeintlich perfekten Idylle Probleme ignoriert und vom Umfeld nicht angesprochen werden. "Das Schweigen kann sehr laut sein", sagt Chefarzt Georg Psota. Das betrifft nicht nur die Familie, sondern die ganze Gesellschaft. Noch immer sind psychische Krankheiten ebenso stigmatisiert wie verbreitet. Ein Grund ist, sagt Lochner, dass "im 'Dritten Reich' in der Psychiatrie viele Gräueltaten passiert sind" und diese nicht aufgearbeitet wurden. "Bis in die 60er sind Dinge passiert, die nicht nachvollziehbar sind."

"Warum ist es überhaupt in Ordnung, in der Öffentlichkeit zu lachen, aber – vor allem als Mann – nicht okay, in der Öffentlichkeit zu weinen?", fragt Michael.
Foto: Regine Hendrich

Heute sitzt Michael (45), von der Brille bis zu den Schuhen in Schwarz gekleidet, auf einem blauen, weichen Sessel und erzählt, was er früher vor sich selbst geleugnet hat. Eloquent ist er und auch elegant. Am Ende eines Satzes sagt er "Ja?", nicht um etwas zu fragen, sondern um den Satz abzuschließen. Damals, bevor er mit Mitte 30 zum ersten Mal eine Therapie begann, fühlte er sich defizitär.

Aber wenn er schon mit Anfang 20 hingegangen wäre, "dann wäre wohl auch etwas zu arbeiten gewesen", sagt er heute. Auch wenn er sich damals noch eingeredet hatte, dass er nur glaube, eine Depression zu haben, weil er faul sei. Oder ängstlich. Seine Mutter vermittelte ihm, so empfand er es zumindest: "Du bist okay, wie du bist." Aber auch: "Es ist nicht okay, wie du dich fühlst". Irgendjemand hätte wohl irgendwann definiert, was normal sei, sagt Michael.

"Das Gegenteil von psychisch krank ist nicht normal, sondern gesund", sagt Arzt Psota. Man sei aber nicht automatisch gesund, wenn man gesellschaftlich funktioniere.

"Warum ist es überhaupt in Ordnung, in der Öffentlichkeit zu lachen, aber – vor allem als Mann – nicht okay, in der Öffentlichkeit zu weinen?", fragt Michael. "Wie krank ist es, dass man einem ganzen Teil der Gesellschaft eine ganz natürliche Reaktion abtrainiert hat?"

Gebrochene Füße, heile Seelen

Mehr Frauen als Männer sind wegen Depressionen in Behandlung. Bei Mia schlich sich schon mit 16 zusätzlich zur Soziophobie eine Depression ein. Alle vier Jahre kommt sie wieder. In ihrer Jugend versuchte sie noch, sich mit Johanniskrauttabletten selbst zu medikamentieren. Zum ersten Mal richtig in Behandlung war sie erst mit 22. Ihr Vater ist mit ihr zur Hausärztin gegangen, dort bekam sie Antidepressiva verschrieben. Die Tabletten schlugen an. "Zum Glück", sagt Mia heute. Ihre langen rotblonden Haare fallen über das karierte Hemd. Ihre Stimme ist ruhig und klar, wenn sie über ihre Erinnerungen spricht, die sie auf ihrem Laptop notiert hat.

Nur einmal hält sie kurz inne, bevor sie weiterspricht: Mit 30 folgte ein großer Einschnitt. Drei Tage lang litt sie unter einer manischen Psychose. Anfangs ging es Mia "sehr, sehr gut", wie sie erzählt. Sie war so zuversichtlich wie schon lange nicht mehr. Doch das neue Selbstbewusstsein steigerte sich zu einer völligen Selbstüberschätzung, schließlich kam ein Verfolgungswahn hinzu. Zum Schluss glaubte sie, dass ihr Leben weltweit live im TV übertragen werde. Die Psychose endete im Krankenhaus, wo sie fünf Wochen zur Behandlung blieb. Die Diagnose: bipolare Störung. Mia glaubt, dass es einen Zusammenhang zwischen den Krankheiten gibt. Was zuerst da war, weiß sie nicht.

Das Leben als Reality-TV, der Stress rund um Weihnachten: Ist es unsere Gesellschaft, die bestimmte Krankheiten produziert? Natürlich würden sich gesellschaftliche Umstände auswirken, sagt Mediziner Psota. Es gehe aber vor allem darum, wiedie Krankheiten auftreten – und nicht ob. "Soziophobie hat es mit Sicherheit immer schon gegeben", sagt Psota, es wurde 1989 als Diagnose formuliert. "Ich bin mir aber sicher, dass das Krankheitsbild heute öfter auftritt."

Umfeld ist entscheidend

In Mias Leben gibt es vieles, das nicht von ihrer Krankheit bestimmt wurde: Weil sie Sprachen lernen wollte, ging sie mehrmals ins Ausland. Es gibt aber auch Dinge, bei denen Mia glaubt, dass sie hinter ihren eigentlichen Kompetenzen zurückgeblieben ist. Manchmal etwa fragt sie sich, ob sie sich auch ohne Soziophobie für den Beruf der Übersetzerin, bei dem sie nicht vor Leuten sprechen musste, entschieden hätte.

Dass Mia und Michael behandelt werden, dass sie heute darüber sprechen können, ist nicht selbstverständlich. Sie hatten das Glück, ein verständnisvolles Umfeld zu haben, das sie in ihrer Entscheidung bestärkte, etwas zu unternehmen, und sie nicht belächelte. Und sie konnten von medizinischer Versorgung profitieren – viele Betroffene bekommen keine Plätze oder können sich keine Psychotherapie leisten.

Fragt man Michael und Mia danach, dann sagen sie unabhängig voneinander, dass sie sich wünschen, unsere Welt wäre eine, in der man über das Thema der seelischen Gesundheit so sprechen könnte, als hätte man sich einen Fuß gebrochen. Wenn er träumen dürfe, sagt Michael, dann würde es zum Beispiel schon in der Schule nicht nur Schulärzte, sondern auch "Schulberater" geben, die sich um das psychische Wohlergehen der Kinder kümmern. "Denn wenn ich mein gebrochenes Bein unbehandelt lasse, dann humple ich ein Leben lang", sagt Michael. (Vanessa Gaigg und Gabriele Scherndl, 20.12.2019)


*Der Name wurde redaktionell geändert.