Jedes Jahr gegen Ende Dezember treten die Forscher von Österreichs führenden Wirtschaftsforschungsinstituten vor die Presse und unterrichten die Öffentlichkeit über die Entwicklung der heimischen Konjunktur. Die Prozedur ist einer der Höhepunkte im Kalenderjahr von Wifo (Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung) und IHS (Institut für höhere Studien).

Beide Institute geben ihre auf eine Nachkommastelle genaue Einschätzung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für das fast abgelaufene Jahr ab – den sogenannten Nowcast –, dann auch Prognosen für das anstehende Jahr sowie für das darauffolgende.

"Wirtschaftswachstum sinkt 2020 weiter" oder "Konjunktur erst 2021 wieder etwas besser" titeln in der Folge die Medien im Indikativ. Ob das, was wir den Medienkonsumenten als Tatsachen auftischen, aber wirklich eintrifft, wird im Nachhinein selten evaluiert. Dabei haben Prognosen die praktische Eigenschaft, sich rückblickend mit der tatsächlichen Entwicklung abgleichen zu lassen – das haben wir für die IHS- und WIFO-Konjunkturprognosen seit 2001 gemacht.

Ziemlich genau im laufenden Jahr

Es zeigt sich, dass beide Institute die BIP-Entwicklung des fast schon zu Ende gegangenen Jahres im Dezember jeweils recht gut einzuschätzen vermögen. Der Nowcast des IHS weicht, langfristig gemessen, durchschnittlich um 0,34 Prozentpunkte pro Jahr ab, jener des Wifo um 0,35 Prozentpunkte.

Der Schwierigkeitsgrad für eine exakte Prognose erhöht sich bereits, wenn nicht mehr das fast abgelaufene Jahr, für das viele Daten bereits vorliegen, bewertet werden soll, sondern das in Kürze beginnende Folgejahr. Sowohl Wifo- als auch IHS-Prognose weichen im langjährigen Mittel um 0,84 Prozentpunkte von der später registrierten tatsächlichen BIP-Entwicklung ab.

Wie groß die Unterschiede im Extremfall ausfallen können, zeigt sich anhand des Krisenjahres 2009. Zwar ahnten beide Institute Ende 2008, als der krisenbedingt kurzerhand einberufene G20-Gipfel bereits getagt hatte und die Rezession in den USA schon mehr als ein Jahr dauerte, dass die Konjunktur 2009 auch in Österreich schwächeln würde; das IHS ging von einem Nullwachstum des BIP aus, das Wifo von einem schmalen 0,1-Prozent-Rückgang. Beide Unternehmen waren allerdings weit vom nachträglich gemessenen realen Rückgang von minus 3,8 Prozent entfernt.

Betrachtet man das jeweils übernächste Jahr – also zum Beispiel 2003 aus Sicht des 2001 abgegebenen Ausblicks –, dann scheint die Vorhersage kaum mehr etwas mit den später eintreffenden Gegebenheiten zu tun haben und wirkt komplett willkürlich. Am deutlichsten wird das neuerlich durch die Rezession Ende der Nullerjahre. 2007 waren die Institute für das Jahr 2009 noch von einem erfreulich hohen BIP-Zuwachs von 2 bis 2,5 Prozent ausgegangen. Wie erwähnt sollte es zu einem Minus-3,8-Prozent-Jahr werden.

Die Diskrepanz setzte sich im Aufschwung fort: 2008 sagten die Ökonomen für 2010 das geringste Konjunkturplus des gesamten Untersuchungszeitraums voraus. Tatsächlich sollte sich 2010 aus der Krise heraus als jenes Jahr in diesem Jahrhundert entpuppen, in dem Österreichs BIP das größte Plus von einem Jahr zum nächsten schaffte (von minus 3,8 auf plus 1,8 Prozent, also einen Vergleichszuwachs von 5,6 Prozentpunkten).

Die Abweichungen für das übernächste Jahr betrugen seit 2003 durchschnittlich 1,35 Prozentpunkte beim Wifo und 1,32 Prozentpunkte beim IHS. Zum Vergleich: Wenn man aus dem real gemessenen Konjunkturveränderung der fünf jeweils vorangegangenen Jahre* einen simplen Durchschnitt errechnet und diesen Wert als "Prognose" für das übernächste Jahr ausgibt, dann würde die Abweichung seit 2003 im langjährigen Mittel bei nur 1,24 Prozentpunkten liegen. Besser also als beide Institute, wenn auch mehr zufällig als beabsichtigt.

Warum dann Prognosen?

Es könne durchaus sein, dass solche "mechanisch ermittelten, naiven Prognosen", wie er sie nennt, näher an der tatsächlichen Entwicklung liegen als komplexe Modellberechnungen, sagt Stefan Schiman vom Wifo. Das bedeute aber nicht, dass sie nicht schon beim nächsten Mal drastisch danebenliegen könnte, während das bei differenzierteren Methoden eher unwahrscheinlich ist.

Schiman gesteht aber ein, dass die sogenannte n+2-Projektion, also die Vorausschau auf das übernächste Jahr, wenig mit einer eigentlichen Prognose zu tun hat. "Es handelt sich eher um einen Grundwert fern am Horizont, einen ersten Wurf, der dann in den folgenden zwei Jahren verfeinert wird".

Wie sich die Konjunktur entwickeln wird, ist trotz moderner Modellberechnungen schwierig vorherzusehen.
Foto: APA/HARALD SCHNEIDER

Warum solche langfristigen Vorhersagen dennoch publikumswirksam veröffentlicht werden und die Institute riskieren, dass sich einflussreiche Stakeholder in ihren Entscheidungen danach richten? Immerhin kann das eine gefährliche Spirale anstoßen: Wirtschaftsforscher sagen eine schlechte Konjunktur voraus, Investoren halten sich zurück, Umsätze sinken, Arbeitnehmer werden freigestellt, woraufhin die Wirtschaftsforscher ihre Prognosen weiter drosseln und das Spiel von vorn beginnt.

"Die Nachfrage nach solchen Prognosen ist einfach da", sagt Helmut Hofer vom IHS. Beispielsweise brauchten die Republik oder die EU Informationen über die Wirtschaftsentwicklung für die Budgetvorschau. Aber auch Hofer räumt ein: "Bei der Prognose für das übernächste Jahr liegen keinerlei Konjunkturinformationen vor und daher wird meistens davon ausgegangen, dass sich das Wachstum dem sogenannten Trendwachstum annähert."

"Viel optimistischere" Interpretation

Die weniger weit in die Zukunft greifenden Prognosen beurteilt Hofer jedoch "durchaus positiv, im Großen und Ganzen wird die konjunkturelle Dynamik gut abgebildet" – mit Ausnahme der Krisenjahre 2009 und 2010. "Aber bei der Großen Rezession handelte es sich um Ereignisse, die nur alle fünfzig bis hundert Jahre vorkommen, daher war es auch nicht so verwunderlich, dass die Prognose den Abschwung und den folgenden Aufschwung kräftig unterschätzt hatte."

Die näherliegenden Prognosen interpretiert auch Schiman "viel optimistischer", als die Kurven auf den ersten Blick andeuten. Für das Folgejahr jeder Prognose zeigen die Grafiken, "dass die Konjunkturprognosen in der Tendenz meist richtig liegen und daher wertvolle Informationen für die Öffentlichkeit beinhalten".

Länger in die Zukunft reichende BIP-Prognosen sollten gleichwohl nicht allzu verbindlich angenommen werden. Vielleicht noch mehr als die Institute, die trotz Bekanntgabe konkreter Zahlen auch auf die Unsicherheiten hinweisen, sind wir Medien angehalten, derartige Vorhersagen vorsichtig und in Möglichkeitsform zu formulieren. (Michael Matzenberger, 9.2.2020)