Die unmittelbare Umgebung kleiner Kinder hat einen enorm prägenden Einfluss auf ihre Entwicklung.
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"Das geht alles vorbei", "Das wächst sich aus" oder "Groß werden sie noch alle": Geht es um die erste Zeit mit einem Baby, gibt es Ratschläge von allen Seiten. Nicht immer sind diese auch eine Unterstützung für die Familien. Auch hören Mütter, die an einer postnatalen Depression erkrankt sind, häufig Sätze wie "Haben auch andere schon Kinder gekriegt" oder "Reiß dich doch zusammen". Das sei der falsche Zugang, sagt Franziska Pruckner von den Frühen Hilfen Wien: "Es braucht Gehör, fachliches Verständnis und ein gutes Netzwerk."

Ein Netzwerk wie die Frühen Hilfen. Es sind Familien, die sich schwertun nach der Geburt eines Kindes. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begleiten die jungen Eltern und ihre Kinder, besuchen sie daheim, bekommen Einblick in den Alltag und erleben dort die Dynamik in der Familie mit.

Dabei geht es anfangs darum, früh zu erkennen, ob eine Familie überhaupt Hilfe braucht. Diese Probleme sehen jene Personen im Gesundheitssystem am besten, die sowieso mit den Familien zu tun haben, etwa das Personal bei der Geburt im Spital. Es soll wissen, welche Hilfsangebote es wo für Familien gibt. Darüber informieren die Frühen Hilfen.

Hilfe annehmen

In der direkten Beratung werden die Familien ermutigt, die Hilfe nicht als ein Manko zu sehen. "Wir versuchen den Mutterschaftsmythos, dass man alles allein schaffen muss, zu brechen", sagt Netzwerkmanagerin Pruckner. Besonders die erste Zeit mit einem Neugeborenen sei eine Phase, in der man Unterstützung annehmen dürfe.

Die Angebote der Frühen Hilfen sind für alle. Etwa wenn Menschen ein Schreibaby haben, kann das sehr belastend sein, auch für eine Beziehung. "Da ist es sehr wertvoll, jemanden zu haben, der einem denken hilft", sagt Hedwig Wölfl, Projektleiterin der Frühen Hilfen. Oder jemanden, der weiß, wo man günstig die Waschmaschine reparieren lassen kann. Rund 50 Prozent der Familien sind sozioökonomisch schlechter gestellt oder armutsgefährdet. Es gibt aber auch viele, auf die das nicht zutrifft.

Wölfl erzählt von einer 37-jährigen Akademikerin. Sie ist ihr eindrücklich in Erinnerung geblieben. Den Frühen Hilfen wurde der Fall von der Hebamme einer Wochenbettstation zugewiesen mit den Worten: "Ich kann die Frau nicht heimschicken, die ist so patschert mit dem Kind." Die Frühen Hilfen standen parat, Wölfl berichtet: "Das war eine ganz gescheite Mutter, die ein absolutes Wunschkind bekommen hat." Bald hat Wölfl erkannt, dass das erste Baby, das diese Frau jemals im Arm hatte, ihr eigenes war. "Ja woher soll sie es denn können?", sagt Wölfl.

Wie gut man anfangs mit einem Baby umgehen kann, habe nichts mit der Bildung, sondern mit Erfahrung zu tun. Hier leiten die Frühen Hilfen an. Nach zwei, drei Hausbesuchen klappt es bei den meisten jungen Familien schon ganz gut.

Mehrfach belastet

Um eine ganz bestimmte Zielgruppe kümmert sich hingegen das Projekt Grow Together: belastete Familien in schwierigen Lebenssituationen, die von Armut, Sucht oder Gewalt betroffen sind. "Diese Menschen haben oft seit Generationen nicht erlebt, wie Familie sein kann", sagt Katharina Kruppa, Kinderärztin und Leiterin von Grow Together.

Dass Investitionen in die frühe Kindheit rentabel sind, zeigen Kostenvergleichsstudien zum sogenannten Social Return on Investment: Ein investierter Euro in die früheste Kindheit spart dem System langfristig 22 Euro – an Gesundheits- und Sozialkosten, weil die Kinder später eine bessere Ausbildungen machen und mehr an der Gesellschaft teilhaben. Ganz abgesehen vom ersparten Leid.

Studien zeigen auch, dass die unmittelbare Umgebung kleiner Kinder einen enorm prägenden Einfluss auf die Entwicklung hat – auch im Hinblick auf die psychische Gesundheit und das spätere Sozialverhalten. "Kinder aus belasteten Familien sind chronischem Stress ausgesetzt, das führt später zu einer erhöhten Aggressionsbereitschaft, Eingliederungsschwierigkeiten in der Schule oder in den Arbeitsmarkt, Sozialhilfeabhängigkeit oder Gesundheitsproblemen. Fünf bis zehn Prozent der betroffenen Kinder sterben im Schnitt zehn Jahre früher", weiß Martin Hafen vom Institut für Sozialmanagement an der Hochschule Luzern. Untersuchungen haben zudem gezeigt, dass extreme Gewalttäter in fast allen Fällen in der frühen Kindheit emotionale Vernachlässigung und Gewalt erfahren haben.

Fehlende Lobby

Schulen, Straßen – all das werde selbstverständlich finanziert, "aber Kinder ins Leben führen, obwohl das so fundamental und unumstritten wichtig ist, dafür gibt es kein Geld", sagt Hafen. Und Wölfl ergänzt: "Besser als in Kinder kann man Geld gar nicht investieren."

Dennoch fehle Kindern die Lobby, sind die Experten sich einig. Denn längst nicht allen Familien, die Unterstützung benötigen würden, kann geholfen werden. In Wien etwa gibt es die Frühen Hilfen nur im Westen der Stadt, weil für die restlichen Bezirke – etwa Favoriten, den kinderreichsten Bezirk Österreichs – die finanziellen Mittel fehlen. "Das ist ein Dilemma der Sonderklasse und sehr bitter für uns", so Wölfl. Sie weiß, dass ihre Arbeit auch die Spitäler enorm entlastet. Kruppa kritisiert: "Wir als eines der reichsten Länder leisten es uns, Menschen von Anfang an aufzugeben."

Rund fünf bis sieben Prozent der Familien sind so belastet, dass sie die erste Zeit ohne professionelle Hilfe nicht schaffen, ohne dass es für die Kinder negative Auswirkungen hat. Rund 2,7 Prozent dieser Familien können die Frühen Hilfen derzeit unterstützen.

Einen anderen Grund dafür, dass in diesem Bereich die Mittel fehlen, sieht Hafen darin, dass es sich dabei um "Frauenberufe" handelt und diese in der Gesellschaft nicht denselben Stellenwert haben wie "Männerberufe". "Mit mehr Männern würde das schneller gehen", sagt er. Zudem, so berichtet er aus der Schweiz, werden Kinder häufig nicht wertgeschätzt, "sie stören eher".

Probleme unserer Zeit

Einige neuere Phänomen fallen den Expertinnen aus dem Frühe-Hilfen-Netzwerk in der jüngsten Vergangenheit besonders stark auf: etwa dass Kinder immer öfter mit dem Smartphone ruhiggestellt werden. "Und zwar nicht einmal für 20 Minuten, sondern für mehrere Stunden. Auch Einjährige bekommen schon das Handy vors Gesicht", sagt Wölfl.

Pruckner hat zudem beobachtet, dass die Familien oft selbst keine Familien haben, die sie unterstützen könnten. Ein Mittel gegen diese Vereinsamung sind Babytreffs – ebenfalls ein Angebot des Netzwerks. Dort werden Freundschaften geknüpft, die Familien können sich gegenseitig unterstützen. "Es muss sich ändern, dass junge Mütter erst wieder Freunde finden, wenn der Nachwuchs in den Kindergarten kommt", sagt Wölfl. Ein Umstand, den sie häufig beobachte.

Letztendlich sei es vor allem Armut, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Frühen Hilfen immer öfter sehen. Wölfl erzählt: "Es gibt Familien, da liegen kleine Babys stundenlang in vollen Windeln – weil sich die Eltern keine neuen leisten können." (Bernadette Redl, 23.12.2019)