Nur weil es alle machen, muss etwas ja noch lange nicht "bochn" sein: Gegen Jahresende kurz stehen zu bleiben, sich umzudrehen und zurückzublicken ist nie ganz falsch. Nicht zuletzt, weil es auch eine gute Gelegenheit ist, "Danke, Welt" zu sagen – nicht nur aus meiner verwöhnten Läuferperspektive, sondern ganz allgemein: Ich werde den Moment nie vergessen, als ich – in einem ganz anderen Leben, das heute unendlich weit weg ist – in Peking neben dem Bürgermeister von Mexiko-Stadt saß und hörte, wie er seinem Nachbarn zuflüsterte: "Was der Kollege vorne Probleme und Herausforderungen nennt, würden wir uns wohl wünschen." Neben ihm saß der Bürgermeister von Neu-Delhi. Und vorne referierte Oslos Bürgermeister über das, was norwegischen Kommunen Sorgen macht.

Foto: Thomas Rottenberg

Was das mit dem Jahresrückblick eines Laufkolumnisten zu tun hat? Nichts – und doch viel: Es geht hier nämlich um nichts. Laufen, Sport und Breitensport ist nichts, was wirklich relevant ist.

Aber dennoch wichtig genug, Menschen zu beschäftigen. Glücklich zu machen. Sie mitunter auch streiten zu lassen. Und sie dabei vergessen zu lassen, dass alleine das beweist, wie gut es ihnen, uns geht.

Darum kommt hier ein – nicht gewichteter, sondern rein chronologisch aufgefädelter – Jahresrückblick, der in Wirklichkeit nur eines sagen will: Danke, Welt! Danke, Leben!

Foto: Thomas Rottenberg

2019 begann gleich mit einer wunderschönen Kontroverse. Und zwar einer, bei der es keine österreichische Lösung gibt: Man kann sich nicht irgendwie durchwursteln und das Ding halb, halb durchziehen. Denn die Frage, ob Laufen auf dem Friedhof super oder pietätlos ist, kann man nicht mit einem Kompromiss beantworten.

Schon gar nicht als Friedhofsverwaltung: Auf dem Wiener Zentralfriedhof ist Laufen ausdrücklich erlaubt. Es gibt sogar ausgeschilderte Laufrouten. Und einen Laufevent, den "Silent Run". Ich habe im Februar die "Weekly Longrun"-Laufgruppe des Wemov-Laufshops hier durchgeführt.

Anfangs waren auch die Mitläufer geteilter Meinung, ob das okay ist – danach aber überzeugt: Man kann auf dem Zentralfriedhof hervorragend und wunderschön laufen – wenn man ein paar Regeln beachtet. Aber das sollte eigentlich selbstverständlich sein.

Link zur Geschichte

Foto: Thomas Rottenberg

Kurz darauf war die erste Reise des Jahres auf dem Plan: Bali. Aber nicht um dort am Yoga-Ballermann von Ubut und an den längst standardisierten Yogini-Insta-Hotspots die immer gleichen Foto-Asanas zu schmeißen, sondern um auch ein bisserl "off the beaten tracks" unterwegs zu sein.

Mit Elisa und Ed Kramer, mehr als nur guten Freunden, die nebenbei halt auch den Spezial-Traillauf-Shop Traildog Running betreiben, waren wir nicht nur ein bisserl Dschungel-und-Tempel-Trailen, sondern sammelten auch angespülten Plastikmüll an den Stränden ein. Und spürten, wie nahe die Apokalypse dem Paradies mittlerweile gekommen ist.

Link zur Geschichte

Foto: Thomas Rottenberg

Drastischer als von Bali nach Norwegen kann ein Lauf-Location-Wechsel innerhalb einer Woche kaum stattfinden: Das kleine, aber kultige schwedische Trailschuhlabel Icebug veranstaltete auf einem Stausee zum ersten Mal den "Frozen Lake Marathon" und lud mich als einen von gerade einmal einer Handvoll europäischer Laufschreiber ein, da mitzumachen.

Der See ist acht Monate im Jahr zugefroren. Auto- und Reifenhersteller aus der ganzen Welt nutzen die auf dem 80 Zentimeter dicken Eis täglich freigekehrten Strecken für Drift- und Grip-Tests. Dass da 300 Spinner Halb- und Vollmarathon liefen, war 2019 ein echtes "First" – und schlicht und einfach großartig. Der Lauf findet 2020 übrigens wieder statt.

Link zur Geschichte

Foto: icebug.com

Bild nicht mehr verfügbar.

Ganz anders, auch was die Teilnehmerzahlen angeht, ist das nächste Highlight: der Vienna City Marathon.

Dass ich zu dem ein gespaltenes Verhältnis habe, ist hinlänglich bekannt. Meine Kritikpunkte erläutere ich an dieser Stelle mit schöner, jährlicher Regelmäßigkeit – und habe dabei einen ganz zentralen Punkt immer ausgelassen: Weil vor Jahren Interviewansuchen ignoriert (meine Lesart) wurden oder im Mail-Nirvana (VCM-Sichtweise) landeten, "verzichtete" ich fast schon traditionell auf eine zentrale journalistische Pflicht: alle Seiten zu Wort kommen zu lassen.

Das holte ich heuer mit einem langen und ausführlichen Interview mit den Marathonmachern Wolfgang Konrad, Gerhard Wehr und Andreas Maier nach. Das war gut und richtig so – der Lauf selbst (ich lief den halben) auch ein Fest.

Link zum Interview

Link zum Laufbericht

Foto: Reuters/ Bader

Am VCM-Wochenende laufen über 40.000 Menschen durch Wien. Und auch sonst wirkt es mittlerweile fast überall so, als würde die ganze Welt zum Vergnügen laufen. Das war nicht immer so. Auch in Wien konnte ich vor fünf oder sechs Jahren die Zahl der Läuferinnen und Läufer, die mir auf Stadtrunden begegneten, noch an einer Hand abzählen.

Wie exotisch sich "Jogger" vor 15 oder 20 Jahren gefühlt haben dürften, konnte ich Anfang Juni erleben: Im Auftrag des Tourismusindustrie-Fachmagazins "Tourist Austria International" begleitete ich eine Pressereise, zu der Billa-Reisen an die "albanische Riviera" lud. Die liegt am Südzipfel des europäischen Armenhauses in Blickweite von Korfu – und will endlich auch von den großen touristischen Strömen profitieren.

Ein faszinierender Trip – auf 1.000 Arten. Aber eben auch, weil Läufer dort noch wie Außerirdische wirken.

Link zur Geschichte

Foto: Thomas Rottenberg

Und dann war da noch der Ironman. Genauer: die österreichischen Ironmänner (ich werte beide als ein gemeinsames Highlight). Ich hatte 2018 meine erste Langdistanz in Klagenfurt absolviert – und dabei ziemlich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann.

Heuer wollte ich es deshalb nochmals wissen – und war das Gegenteil von motiviert: Bei der Halbdistanz in St. Pölten Ende Mai war ich fünf Minuten vor dem Start noch so lustlos, dass mich Harald Fritz, mein Freund und Coach, quasi mit einem Fußtritt ins Wasser befördern musste – und mir damit (wie so oft) nicht nur eine wichtige Lektion erteilte, mir ein absolut geiles Rennerlebnis vermittelte und ganz nebenbei dadurch schuld daran ist, dass mein Leben seither komplett umgekrempelt ist.

Link zur Geschichte

Foto: Nina Novak

Den "großen" Ironman in Klagenfurt ging ich ein paar Wochen später optimistisch und motiviert an – und hatte einen großartigen Tag. Bis am Rupertiberg, 25 Radkilometer vor dem Ziel, einer der heftigsten Hagelstürme, die ich je erlebte, alles änderte: Sturmböen, Hagel und Kälte ließen meinen ausgeklügelten Fressplan am Bike platzen – und nach zwölf Laufkilometern stürzte ich in das tiefste Formloch meines Lebens.

Ich war noch nie so nahe dran gewesen, alles hinzuschmeißen – und jeder hätte es verstanden. Aber ich biss durch: Wenn mich Hagel, Wind und Kälte am Berg nicht abgeworfen hatten, würde es der Lauf in der Ebene auch nicht schaffen. Es waren dann noch 30 Kilometer Powerwalken. Ein Eilmarsch durch die Hölle. Es tat mehr als nur weh. Aber viel brutaler war, was in meinem Kopf abging. Im Ziel heulte ich. Weil es vorbei war – und weil ich stolz war. Die Zeit? Ich habe bis heute nicht nachgeschaut, auf welchem Platz ich landete. Irgendwer erzählte mir von 1.000 Ausfällen alleine wegen des Unwetters. Egal: Ich habe keinen dieser Athleten besiegt oder geschlagen – sondern mich. Nur das ist wichtig.

Link zur Geschichte

Foto: Distlberger

Nach Klagenfurt kam die große Ruhe. Das Ausrollen und Erholen. Und das Besinnen darauf, worum es beim Laufen wirklich geht: Klar macht es Spaß, sich die Kante zu geben. Zu schauen, was geht. Wie weit der Kopf den Körper treiben kann.

Aber Langdistanz-Triathlons sind in der Nische der Langdistanzen die Nischennische: Etwa 8.000 Österreicher laufen pro Jahr einen vollen Marathon. Vermutlich nicht einmal halb so viele quälen sich über eine Tri-Langdistanz (3,8 Kilometer Schwimmen, 180 am Rad, 42 Laufen) – aber zigtausende laufen "kleine" regionale und familiäre Laufbewerbe. Einfach weil es wunderschön ist.

Zu einem exemplarisch-beispielhaft-wunderschönen lud mich mein Kumpel Ed (ja, der vom Trailschuhgeschäft) ein. Auch, wie er sagte, um meinen Fokus wieder auf das Wesentliche am Laufen zu richten: die Freude.

Link zur Geschichte

Foto: Thomas Rottenberg

Aber da ist noch etwas. Es geht nicht immer nur darum, selbst anzukommen. Oder selbst zu laufen (oder zu schwimmen. Oder Rad zu fahren. Oder was auch immer): "No man is an island" gilt auch im Sport. Und irgendwann lernt jeder und jede, wie wichtig es ist, dass da jemand ist, der auf einen wartet. Der an der Strecke steht und anfeuert. Mitfiebert. Mitleidet. Der einem im schlimmsten Moment, wenn alles nur noch Elend, Zähneknirschen und Wann-hört-dieser-Scheiß-endlich-auf-Horror ist, beinhart ins Gesicht lügt: "Du schaust super aus!"

Und der im Ziel da ist. Einfach da – das genügt. Ist in dem Moment das Wichtigste überhaupt.

Natürlich muss jeder und jede selbst laufen. Aber dieses Gefühl, nicht alleine zu sein, ist wichtig. Wie wichtig, durfte ich heuer in Barcelona aus der Begleiterperspektive erleben.

Und da war noch etwas: Hatte ich in Klagenfurt wirklich geschworen, nie, nie, nie wieder über eine Langdistanz nachzudenken? Nun ja ...

Link zur Geschichte

Foto: Thomas Rottenberg

Dann kam der Herbst. Obwohl er eigentlich nicht kam: Im Oktober beim Wolfgangseelauf zu starten ist für mich schon beinahe Tradition. Obwohl ich dort den "Klassiker" noch nie gelaufen bin. Als Saisonschluss hatten mir bisher die schönen zehn Kilometer am Ufer immer gereicht – und ich war immer als Begleiter oder Pacer für andere gelaufen. Also nie voll: Die 27-Kilometer-Runde über den Falkenstein hatte ich mir nie zugetraut und zugemutet.

Heuer war das anders. Ganz anders.

Der Lauf war wunderschön. Hart, aber traumhaft.

Aber was hier – und bei ein paar Herbstläufen danach – nicht nur mir, sondern auch den Veranstaltern auffiel: Der Herbst war noch Sommer. Und ob das nur Wetter oder doch schon Klima war, lassen wir jetzt einfach mal offen.

Link zur Geschichte

Foto: Thomas Rottenberg

Und dann war da natürlich noch Israel. Der Eilat Desert Marathon.

Eine Einladung, die sehr kurzfristig kam. Ich wollte eigentlich in Valencia meinen einzigen (Klagenfurt ausgenommen) Marathon des Jahres laufen, wusste und spürte aber, dass ich nicht wirklich "marathonfit" war. Das Jahr war abseits des Laufens ziemlich heftig gewesen. Irgendwie 42 Kilometer runterzuwuzzeln würde schon gehen – aber hatte ich mir nicht in Klagenfurt vorgenommen, den Rest des Jahres sportlich nur noch zu genießen? Musste ich irgendwem irgendwas beweisen?

Eilat, der Lauf durch die Wüste, schien da perfekt. Kontemplativ-meditativ. "Eh nur ein Halber, das geht immer – vielleicht ja sogar halbwegs flott", dachte ich – und lag so was von falsch.

Gut so! Die Wüste, die Weite, der Sand, der Wind, der Boden und die Hitze waren das eine. Ein Erlebnis, eine Macht, eine Unmittelbarkeit und Intensität, die ich auf einer Laufstrecke zuvor nie erlebt habe.

Denn hier, im Nichts, läuft Geschichte. Auch meine. Aber vor allem die der letzten 5.000 Jahre. Die der letzten 2.000 Jahre. Die der letzten 50 Jahre. Die von endlosen, sinnlosen Kriegen im Namen irgendwelcher Götter.

Aber auch die der Hoffnung: Wenn am trockensten, dürrsten, staubigsten Ort der Welt plötzlich ein Baum steht. Und er grüne Blätter trägt.

Es ist nur Laufen – aber eben nicht nur.

Link zur Geschichte

(Tom Rottenberg, 25.12.2019)

Foto: Thomas Rottenberg