Die Tories hatten Labours Hochburgen in den Midlands und in Nordostengland mit dem Versprechen geknackt, den "Brexit zu Ende zu bringen". Das wird für die Tories nicht reichen, um ihre Mandate zu halten, ist sich Robert Skidelsky, Mitglied des britischen Oberhauses, im Gastkommentar gewiss. In einem weiteren Gastkommentar zeigt US-Ökonom Jeffrey D. Sachs die Probleme des Mehrheitswahlrechts auf.

Das Vereinigte Königreich braucht eine doppelte Neukonfiguration: Die Konservativen müssen sich von der Thatcher’schen Wirtschaftspolitik verabschieden, Labour muss seine Umarmung der Minderheiten und Minderheitskultur lockern. Beide müssen wieder in Richtung Mitte rücken. Der liberalistische Traum von einem wirtschaftlich und moralisch freien Markt trifft bei einer wirtschaftlich interventionistischen, aber sozialkonservativen Wählerschaft nicht auf Widerhall.

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Margaret Thatchers Wirtschaftspolitik prägt das Land bis heute.
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Der Brexit war eine Reaktion auf einen wirtschaftlichen Treuebruch: die britische Version einer europaweiten Revolte der "Abgehängten" (© Emmanuel Macron). Dieses Etikett ist als Beschreibung absolut korrekt, doch als Handlungsrezept überwiegend falsch, denn es legt nahe, dass die Zukunft technologisch vorbestimmt ist und sich die Menschen schlicht an sie anpassen müssen. Staatliche Pflicht ist es laut dieser Sicht, die Abgehängten in die Lage zu versetzen, auf den Kosten senkenden, Arbeitsplätze abbauenden Expresszug aufzuspringen; die meisten Menschen dagegen wünschen sich eine sichere Arbeit, die ihnen einen menschenwürdigen Lohn einbringt und Selbstwertgefühl vermittelt.

Politik der Stabilisierung

Niemand würde bestreiten, dass der Staat eine wichtige Rolle dabei zu spielen hat, Menschen die benötigten beruflichen Qualifikationen zu vermitteln. Doch es ist auch Aufgabe des Staates, den Zielkonflikt zwischen Sicherheit und Effizienz so zu steuern, dass keine größere Bevölkerungsgruppe unfreiwillig arbeitslos bleibt.

Eine garantierte Vollbeschäftigung war der zentrale Konsenspunkt der von rechts wie links verfolgten keynesianischen Wirtschaftspolitik der 1950er- und 1960er-Jahre; im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung standen Fragen der Vermögens- und Einkommensverteilung. Die Konservativen sollten versuchen, diese Art von dynamischem Zentrum zurückzuerlangen.

Falsche Sparpolitik

Jeder wirklich nach "nationaler Einheit" strebende Konservativismus muss anerkennen, dass die Sparpolitik von 2010 bis 2017 Millionen Menschen schweren, unnötigen Schaden zugefügt hat. Die Tories müssen zeigen, dass sie begriffen haben, warum dies falsch war und dass der Zweck des Haushalts nicht darin besteht, die Bücher der Regierung auszugleichen, sondern für Vollbeschäftigung zu sorgen.

Eine Partei, die sich dazu bekennt, von der Mitte aus zu regieren, sollte eine Politik zur Stabilisierung des Arbeitsmarkts verfolgen. Hierzu sollte ein dauerhaftes staatliches Investitionsprogramm gehören, das darauf abzielt, wieder ein Gleichgewicht zwischen den Regionen des Vereinigten Königreichs herzustellen und die Infrastruktur umweltfreundlicher zu machen, sowie ein Puffer garantierter Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor, der bei wirtschaftlichem Ab- bzw. Aufschwung automatisch wächst bzw. schrumpft. Das Schöne an Letzterem ist genau dieser Automatismus, der den Mechanismus gegen den Vorwurf in Schutz nimmt, ein Instrument stimmenhungriger Politiker zu sein.

Ein Kulturkrieg

Labour muss sich bewusstmachen, dass die meisten ihrer Wähler kulturell konservativ sind. Die Wahl hat eine Kluft zwischen Brexit-Gegnern und -Befürwortern offenbart, die für eine Teilmenge der in London und an den Universitäten angesiedelten Brexit-Gegner auf einen Kulturkrieg zwischen einer politisch korrekten Akademikerschicht und einer routinemäßig als dumm, hinterwäldlerisch, ungebildet oder – bei großzügigerer Formulierung – fehlinformiert bezeichneten Gruppe der Bevölkerung hinauslief. Ein Symptom dieser Kluft war die Beschreibung Boris Johnsons als "Gewohnheitslügner", als würde seine Verlogenheit den umnebelten Wählern die Wahrheit über ihre Situation verbergen.

Die politische Korrektheit erstreckt sich auf die gesamte zeitgenössische Kultur. Mir selbst wurde erstmals in den 1970er-Jahren eine kulturelle Offensive gegen traditionelle Werte bewusst. Seit damals wurde den Schülern in den Geschichtsbüchern vermittelt, dass die Erfolge Großbritanniens auf der Ausbeutung kolonialer Völker beruhten und die Menschen lernen sollten, sich für das Verhalten ihrer Vorfahren angemessen zu entschuldigen. Geschichte ist zu einem großen Teil Mythenbildung, und keine Gemeinschaft kann ohne einen Vorrat an Mythen leben, auf die sie stolz sein kann. Und "normale" Menschen wollen nicht ständig zu hören bekommen, dass ihre Überzeugungen, Gewohnheiten und Vorurteile obsolet sind.

Neue kulturelle Normen

Man muss daher bei der Weiterentwicklung kultureller Normen ein neues Gleichgewicht finden zwischen dem Drang, Vorteile zu überwinden, und der Notwendigkeit, das soziale Gefüge zu bewahren. Zudem mag die Formulierung "Abgehängte" zwar die Lage der in wirtschaftlich prekären Verhältnissen Lebenden einigermaßen angemessen beschreiben, aber als kulturelle Beschreibung ist sie völlig falsch. Es gibt zu viele kulturell "Abgehängte", ihre kulturelle "Umschulung" würde viel länger dauern als jede wirtschaftliche Umschulung. Doch ist Umschulung nicht das richtige Rezept. Die Eliten der Großstädte haben kein Recht, dem Rest des Landes ihre Normen aufzuzwingen. Labour wird sich daran erinnern müssen, dass "normale" Menschen viel stärker an einer Trans-Pennine-Eisenbahn interessiert sind als an einer Zukunft, die die Rechte Transsexueller hochhält.

Utopisten sind Zerstörer

Kurz gesagt: Wie die Rechte einen Fehler gemacht hat, als sie den Menschen den Wirtschaftsindividualismus aufzwang, hat die Linke mit ihrer Verachtung für die Mehrheitskultur einen Fehler begangen. Im Vereinigten Königreich war der Preis für die Unfähigkeit der Eliten in beiden Bereichen der Brexit; in Europa und den USA im Allgemeinen war es der Aufstieg des Populismus.

Wirtschaftliche und kulturelle Utopisten sind gleichermaßen Zerstörer: Sie wollen das Bestehende einreißen, um an seiner Stelle etwas Perfekteres zu errichten. Der Traum von der Perfektion ist der Tod der Staatskunst. Politiker, die danach streben, im Namen der gesamten Gemeinschaft zu regieren, sollten sich bemühen, das beste mögliche Ergebnis zu erreichen und nicht das bestmögliche. (Robert Skidelsky, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 21.12.2019)