Hier tobt sich eine rüstige 72-Jährige aus, nämlich das Orca-Weibchen J8.
Foto: Kenneth Balcomb, Center for Whale Research

Für Sentimentalität hat die Evolution keinen Platz: Es gilt, die eigenen Gene in die Zukunft weiterzutragen, danach darf man abtreten. Für zahlreiche Tierarten bedeutet das, dass ihr ganzes Leben auf einen einzigen Fortpflanzungsakt hinsteuert, dem kurz danach auch schon der Tod folgt. Andere wiederum durchlaufen mehrere Fortpflanzungszyklen, was ebenfalls erst mit dem Tod endet.

Das Rätsel der Menopause

Doch es gibt auch bemerkenswerte Ausnahmen, und der Mensch ist eine davon. Das uns selbstverständlich erscheinende Phänomen von Menopause und Postmenopause – also nach dem Ende der Fortpflanzungsfähigkeit noch lange weiterzuleben – ist in der Tierwelt, zumindest nach bisherigem Forschungsstand, eine Seltenheit. Bei vielen Säugetierarten gibt es belegtermaßen keine Menopause, der Fortpflanzungszyklus wird lediglich unregelmäßiger. Und bei den meisten bisher festgestellten Ausnahmen handelte es sich um Zootiere – ob sich deren Befund verallgemeinern lässt, darüber sind sich Forscher nicht einig.

Was wildlebende Tiere anbelangt, konnte eine (Post-)Menopause lediglich bei ein paar Zahnwalarten eindeutig nachgewiesen werden – darunter auch der Orca oder Schwertwal. Orca-Weibchen verlieren ihre Fortpflanzungsfähigkeit im Schnitt mit Ende 30, Anfang 40. Damit stehen sie jedoch erst in der Mitte ihres Lebens, es wurden sogar schon über 90-jährige Orca-Greisinnen dokumentiert. Die Lebenserwartung der Männchen hingegen ist wie beim Menschen geringer, allerdings nicht nur um Jahre, sondern um ganze Jahrzehnte.

Die Großmutter-Hypothese

Doch wie lässt sich das nüchterne evolutionäre Kalkül mit dem Umstand vereinbaren, dass ein Tier nach dem Verlust seiner Fruchtbarkeit noch einmal so lange lebt wie davor? Dazu hat der US-amerikanische Evolutionsbiologe George C. Williams – zunächst auf den Menschen zugeschnitten – die sogenannte Großmutter-Hypothese aufgestellt. Grundtenor: Indem sich Großmütter um ihre Enkel kümmern, erhöhen sie deren Überlebenschancen. Nüchterner ausgedrückt sorgen sie also immer noch für den Fortbestand ihres Erbguts, nur um eine Generation verschoben.

Ein Team britischer, US-amerikanischer und kanadischer Biologen hat sich nun daran gemacht, die Großmutter-Hypothese an Orcas zu überprüfen. Sie zogen dafür die Populationen von Orcas heran, die als sogenannte Residents vor der Nordwestküste Kanadas und der USA leben und hervorragend dokumentiert sind. Der gewaltige Datensatz, der vom Center for Whale Research und der kanadischen Fischereibehörde angesammelt wurde, umfasst einen Zeitraum von 36 Jahren – genug also, um generationenübergreifende Trends bei den Walen festzustellen. Die Ergebnisse wurden in den "Proceedings" der US-amerikanischen National Academy of Sciences veröffentlicht.

Das Sozialleben der Orcas

Orcas wird zugestanden, dass sie verschiedene Kulturen hervorgebracht haben. Sie kommunizieren nicht nur in regional voneinander abweichenden Dialekten, sie gehen auch unterschiedlichen Lebensweisen nach ("Ökotypen"). Die Residents im Nordostpazifik beispielsweise jagen ausschließlich Fisch, und das heißt in erster Linie: Königslachse. Ihr Sozialleben gliedert sich in mehrere Schichten: vom festen kleinen Familienverband über die Schule bis zum schon etwas loseren Clan und zuletzt der großen "Gemeinschaft". Auf dieser Ebene der Orca-Gesellschaft trifft man sich nur noch bei Gelegenheit.

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Wie gut es den Orcas im Nordostpazifik geht, hängt davon ab, wie groß die Bestände dieses Fischs sind.
Foto: AP/Robin Loznak/The News-Review

Der Kern des Soziallebens, der Familienverband, ist eine Besonderheit im Tierreich: Bei den Orca-Residents bleiben sowohl Töchter als auch Söhne ein Leben lang in der Gruppe der Mutter. Lediglich zur Fortpflanzung besuchen sie andere Gruppen, danach kehren sie zur eigenen Familie zurück, und die Töchter ziehen hier auch ihren Nachwuchs auf. Diese von Matriarchinnen geführten Familienverbände sind extrem stabil.

Orca-Daten durch die Statistik gejagt

Mit diesem Wissen im Hinterkopf haben die Forscher um Stuart Nattrass von der Universität York sämtliche Daten über Geburten und Todesfälle unter den Orca-Residents des Nordostpazifiks in ein umfassendes statistisches Modell eingefügt, um Zusammenhänge aufzuspüren. Und die zeichneten sich deutlich ab: Starb eine Großmutter, sank die Überlebensrate beim Orca-Nachwuchs in den zwei Folgejahren deutlich, im Extremfall stieg die Sterblichkeit auf das Viereinhalbfache.

Allerdings gibt es in den teilweise vier Generationen übergreifenden Familienverbänden ja auch Großmütter, die selbst noch Nachwuchs zur Welt bringen. Diese mussten im Modell also von Großmüttern, die sich bereits in der Postmenopause befanden, getrennt werden. Und tatsächlich erwies sich, dass der Effekt einer nicht mehr fortpflanzungsfähigen Orca-Großmutter um den Faktor 1,5 größer ist als der einer fruchtbaren. Damit sehen die Forscher die Großmutter-Hypothese als bestätigt an.

Hilfe zur Selbsthilfe

Doch worin genau liegt der Effekt in der Praxis? Darauf deutet der Vergleich mit der Bestandsentwicklung der Königslachse hin: Je weniger Lachse es gab, desto positiver wirkte sich das Vorhandensein einer Großmutter aus. Es muss also etwas mit der Nahrungsbeschaffung zu tun haben.

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Eine Orca-Mutter mit ihrem Kalb.
Foto: AP/NOAA Fisheries/Vancouver Aquarium

Auch nachdem Orca-Babys abgestillt worden sind, kümmert man sich noch um sie – Nahrung wird geteilt, es wird aber auch Hilfe zur Selbsthilfe gegeben: Mütter schaffen dem Nachwuchs noch lebende Beutetiere herbei, oder sie schubsen ihre Kinder mit sanftem Nachdruck selbst auf die Beute zu. Vielleicht noch wichtiger ist aber strategische Vorausplanung: Ähnlich wie Elefantenmatriarchinnen wissen ältere Orca-Weibchen, wo lohnende Futtergründe sein könnten, und führen ihre Familien gezielt dorthin. Gerade in Zeiten der Knappheit ist solche Lebenserfahrung besonders wertvoll.

Die Erfahrung lässt sich aber nur dann optimal ausspielen, wenn sich ein Weibchen nicht um eigenen Nachwuchs kümmern muss und durch diesen in seiner Mobilität eingeschränkt ist, bilanziert Nattrass. Erst in der Postmenopause seien die Weibchen freigespielt und könnten in ihren Familien überlebensnotwendige Führungsrollen einnehmen.

Oma ist für alle da

Zuletzt hat die Statistik noch ein Detailergebnis hervorgebracht, das auch nicht uninteressant ist: Der Großmutter-Effekt schlug sich bei männlichem und weiblichem Nachwuchs gleich stark nieder. Das ist deshalb nicht selbstverständlich, weil man mittlerweile aus Beobachtungen weiß, dass Orca-Mütter ihren Söhnen mehr Fürsorge zuteil werden lassen als ihren Töchtern. Die Oma hingegen wertet offenbar nicht. (jdo, 5. 1. 2020)