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Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein bescherte Österreich eine wichtige politische Erfahrung.

Foto: Reuters

Das Jahr 2019 darf oder muss aus innenpolitischer Sicht nachgerade als Annus horribilis bezeichnet werden. Denn es war ein politischer Horror, der in Form des berühmt-berüchtigten Videos aus einer Finca auf Ibiza ruchbar wurde. Der Vizekanzler der Republik gab darin Einblick in Abgründe des politisch (Un-) Möglichen. Das war demokratiepolitisch gemeingefährlich. Die Bilder. Die Worte. Die möglichen Taten. Ein Angriffsplan gegen die Demokratie.

Der Film katapultierte nicht nur die FPÖ aus der Regierung von Sebastian Kurz (ÖVP), sondern brachte auch das türkis-blaue Experiment zu Fall.

Das Land stand plötzlich ohne Regierung da, und – das ist ein besonderer Treppenwitz dieser Geschichte – ausgerechnet Beamtinnen und Beamte sollten den verfahrenen Karren aus dem Morast ziehen, in den die ÖVP-FPÖ-Koalition das Land geritten hatte. Jene Regierung, die eine noch nie da gewesene Armada an parteipolitischen Gewährsleuten in überdimensional aufgeblasene Kabinette der Minister geschickt hatte, um die Ministerialverwaltung in den Ressorts durch ihre Mittelsleute auszubremsen.

Herrschaft kraft Wissen

Das Expertenkabinett, souverän angeführt von Kanzlerin Brigitte Bierlein, davor Verfassungsgerichtshofspräsidentin, ging an die Arbeit und legte sie im Geiste des klassischen Beamtentums an: "Herrschaft kraft Wissen", so beschrieb Max Weber die bürokratische Verwaltung. Dabei zeigte die selbstauferlegte Zurückhaltung gemäß der Devise "Verwalten statt gestalten" auch, dass es gut ist für ein Staatsgefüge, wenn es hochqualifizierte, loyale Mitarbeiter gibt, die sich qua Habitus in erster Linie dem Staat und dem Recht, unabhängig von Person oder Parteizugehörigkeit, verpflichtet fühlen. Es verleiht dem leicht antiquiert wirkenden Wort Staatsdiener seine hehrste Bedeutung: dem Staat als Versammlung aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger dienen.

Kanzlerin Bierlein etablierte mit ihrem Team mit unaufgeregter Selbstverständlichkeit symbolisch wichtige Bausteine für jede künftige Politik. Im Kanzleramt kann auch eine Frau amtieren. Natürlich! Eine Regierung je zur Hälfte mit Männern und Frauen besetzen? Sicherlich! Man muss nur wollen. Der Wegfall des parteiischen Dauergezänks war eine Wohltat. Souveräne Expertise kommt auch ohne grelle Inszenierung und teure Werbung auf Steuerzahlerkosten aus. Das sind Standards, hinter die jede neue Regierung nur peinlich zurückfallen kann.

Lackmustest für das Parlament blieb aus

Das Kabinett Bierlein hätte sich auch gern etwas mehr trauen können. Es wäre interessant gewesen, wie unabhängig sich die gewählten Vertreterinnen und Vertreter des Volks geriert hätten, wenn ihnen diese Regierung ein scharfes Parteienfinanzierungsgesetz jenseits parteipolitischer Interessen vorgelegt hätte. Verstehen sich die Abgeordneten nur als verlängerter, kritikloser Arm "ihrer" Regierungsparteien – oder könnte es einmal nur um die Sache des Landes gehen? Es hätte Sternstunde und Lackmustest für ein souveränes Parlament sein können.

Oft war die Rede von der "Übergangsregierung". Dabei war und ist das Kabinett Bierlein eine mit allen verfassungsmäßigen Rechten und Pflichten ausgestattete Regierung. Sie ist weit mehr als nur ein Interregnum im Sinne der lateinischen "Zwischenherrschaft". Sie war, so wie sie war, eine wichtige und geglückte Erfahrung für das Land. Weil sie vorexerziert hat, dass Politik auch anders möglich ist. Insofern war 2019 dann doch auch ein Annus mirabilis, ein Jahr der Wunder. (Lisa Nimmervoll, 23.12.2019)