Im Gastkommentar spricht sich die frühere Korrespondentin Joëlle Stolz dafür aus, in die Debatte über Kunstrestitutionen auch den religiösen Faktor einzubeziehen.

Frankreich wird im Sahel des "Neokolonialismus" beschuldigt. Paris hat dort mit militärischer Hilfe europäischer Länder eine antijihadistische Koalition aufgebaut, fragt sich allerdings, ob diese Wüstenregion zu "seinem" Afghanistan wird. Vor diesem explosiven Hintergrund entwickelte sich die Debatte um die Restitution afrikanischer Kunstobjekte. Sie wurden zum Großteil während der Kolonialzeit entwendet und befinden sich derzeit im Besitz europäischer Museen.

Die Autoren des Berichts, der 2018 von Präsident Emmanuel Macron bestellt und übernommen wurde, die Französin Bénédicte Savoy und der Senegalese Felwin Sarr, haben sich klar für eine Restitution ausgesprochen. Ihr Modell ist die Washingtoner Erklärung von 1998 über Kunstobjekte, die ihren jüdischen Eigentümern von den Nazis gestohlen wurden. Der Sarr-Savoy-Bericht hat für Zustimmung und Kritik gesorgt. Unter anderem von Rechtsanwalt Emmanuel Pierrat, einem auf Kulturrecht spezialisierten Juristen – selbst Sammler afrikanischer Kunst. Er hat im September ein polemisches Buch mit dem Titel "Sollte man Afrika Kunstwerke zurückgeben?" veröffentlicht.

Statuen des Königreichs Dahomey – heute Benin – im Museum Quai Branly in Paris. Kulturminister Franck Riester betonte kürzlich, Frankreich wolle an der Rückgabe von Kulturgütern festhalten.
Foto: APA/AFP/Gerard Julien

Ausschweifende Religiosität

Gilt in diesem Fall tatsächlich das Abkommen von Washington, dem zufolge die Kläger den Beweis früheren Eigentums zu liefern haben, als geeignetes Modell? Meine Erlebnisse als Journalistin führen mich dazu, einen nicht beachteten Aspekt der Debatte zu beleuchten: die ausschweifende Religiosität in Afrika. Nicht nur im Rahmen eines strengen Islam – die Zerstörung von Gräbern muslimischer "Heiliger" durch Jihadisten war einer der Gründe für Frankreichs Militärintervention in Mali ab 2013. Aber auch für ein Christentum, das zumindest verbal genauso kompromisslos ist. Man denke vor allem an die nunmehrigen neoprotestantischen und evangelikalen Kirchen, die in den bevölkerungsreichen Ländern Nigeria und Demokratische Republik Kongo wie Pilze aus dem Boden schießen.

Laut der Website Evangelique.info sind mehr als ein Viertel der 2,4 Milliarden Christen dieser Strömung zuzurechnen, Tendenz steigend. Wenn 45 Prozent der Afrikaner (30 Prozent südlich der Sahara) dem Islam angehören, wären allein in Nigeria 55 Millionen Einwohner evangelikale Christen. Das heißt zehn Millionen mehr als in Brasilien, wo der extrem rechte Jair Bolsonaro dank ihrer Unterstützung zum Präsidenten gewählt wurde. Freilich haben diese Christen – wie viele afrikanische Katholiken – eine andere Art, Kunst und überhaupt Darstellung wahrzunehmen als im Westen.

Wir leben in entchristianisierten, säkularen Gesellschaften. Ein Experte der Beziehungen zwischen Politik und Religion, Jérôme Fourquet, hat allerdings in seinem Buch "Der französische Archipel" auf den Aufschwung dieser christlichen Gemeinschaften verwiesen. In der Wiener Stadthalle hat im Juni das Treffen von 10.000 Gläubigen – Sebastian Kurz und Kardinal Schönborn waren auch anwesend – viele erstaunt. Die Stärke dieser Variante des Christentums im einst so katholischen Österreich wurde plötzlich sichtbar.

Kunst und Religion

Europäische Kunst war über Jahrhunderte mit Religion eng verbunden. Jeder konnte die Fresken der Kirche "lesen". Heute müssen unsere Museen spezielle Kurse anbieten: Wer ist denn die heilige Anna? Oder Hieronymus? Besuchern wird erklärt, wie man diese Figuren in eine Erzählung einordnet, die sie nicht mehr kennen.

Die Entkoppelung von Kunst und Religion war fast vollendet, als Juden ihre später von den Nazis gestohlenen Kunstsammlungen gebildet haben. Manche haben sich für die Avantgarde interessiert, andere für Klassiker. Ihre Beziehung zur Kunst ähnelte denjenigen, die heute ins Museum Quai Branly gehen, um Yoruba- oder Fang-Masken zu besichtigen. Die Rothschilds haben Bilder von Rembrandt gesammelt: nicht wegen ihres biblischen Bezugs, sondern wegen des Blicks des holländischen Malers auf solche Themen. Die Kunstobjekte des Quai Branly waren übrigens früher im "Museum der afrikanischen und ozeanischen Künste" untergebracht. Es wurde unweit vom Tiergarten von Vincennes 1931 eröffnet, um das koloniale Imperium zu zelebrieren. Durchaus bezeichnend: da Löwen und Elefanten aus der Wildnis, hier bearbeitete Objekte. Von Menschen, die "nicht genug auf der Bühne der Geschichte angekommen sind", wie Präsident Nicolas Sarkozy 2007 in einer sehr kontroversen Rede in Dakar sagte.

Lehrreicher Fall

Freilich gibt es afrikanische Eliten, die ein von Europa angeeignetes Erbe ins Zentrum der kollektiven Identität ihres Kontinents zurückbringen wollen. Diese hatte Macron im Kopf, als er versprochen hat, dem Staat Benin 26 Werke zu restituieren, die im Rahmen eines am Ende des 19. Jahrhunderts durchgeführten militärischen Angriffs geraubt wurden. Es gibt auch in Afrika eine lebendige Szene privater Kunstsammler, zum Beispiel Sindika Dokolos, Ehemann von Isabel dos Santos, der Tochter des langjährigen Staatschefs Angolas.

Der Fall Angola ist lehrreich. Als sich die portugiesische Kolonialmacht 1975 zurückziehen musste, gab es im Land zahlreiche Statuetten von Tschibinda Ilunga, dem Helden der Tschokwe-Kultur. Seitdem sind sie "verschwunden", wie Dokolo 2015 bitter konstatierte. Genauso wie 1993 ein Dutzend königlicher Köpfe – in der afrikanischen Kunst einzigartig – aus dem Museum von Ife im Südwesten Nigerias "verschwunden" ist. Ein diskreter Zettel des auf illegalen Kunsthandel fokussierten Unesco-Gremiums Icom hatte in Lagos auf deren Diebstahl hingewiesen – bloß in der Mitte einer riesigen Krise nach der Annullierung der Präsidentschaftswahlen hat es niemanden aufgeregt. Damals stellte ich in "Le Monde" die Frage: Könnte man sich ein solches Schweigen vorstellen, wenn jemand die Venus von Milo stehlen würde? (Einige dieser Köpfe sind später gefunden und restituiert worden, unter anderem von Frankreich.)

Ambivalente Haltung

Das Problem ist nicht nur das schwache Interesse mancher afrikanischen Politiker, das von einigen Museumsverwaltern in Europa erwähnt wird. Das Afrika-Museum im belgischen Tervuren hatte bekanntlich dem Zaïre von Mobutu wertvolle Kunstobjekte zurückgegeben, die prompt in privaten westlichen Kunstsammlungen gelandet sind. Das Problem ist auch die ambivalente und manchmal feindliche Haltung einer afrikanischen Bevölkerung gegenüber den Werken ihrer Vorfahren.

In den 1990er-Jahren war das Nationale Museum in Jos, im Zentrum Nigerias, genauso faszinierend wie wenig besucht. Die Reserven waren bis zum Bersten voll mit Masken und Statuen, die von den einst polytheistischen ethnischen Gruppen der Gegend stammten. Diese hatten sich dem Christentum zugewandt, um sich vor den Muslimen aus dem Norden zu schützen. Die früheren Idole wollten sie nicht mehr ehren, aber sie hatten noch Angst davor.

Darin liegt das Paradoxon der Islamisierung wie der Evangelisierung auf dem afrikanischen Kontinent: Besonders die Gemeinschaften, die das göttliche Wort buchstäblich interpretieren, sei es im Koran oder in der Bibel, wissen trotz ihrer Hierarchie Frauen und Jugendlichen, die sich früher den "alten weisen Männern" wortlos beugen mussten, einen besseren Platz zu geben. Ein Grund ihres Erfolgs ist, dass sie eine Art Modernität anbieten und gleichzeitig ihre Mitglieder vor den "bösen Kräften" beschützen – vor der Zauberei, an die wir nicht mehr glauben.

Die Debatte über Kunstrestitutionen an Afrika hat angefangen. Sie sollte auch den religiösen Faktor einbeziehen. (Joëlle Stolz, 25.12.2019)