Das Lagers Moria auf Lesbos von außen: Hier leben 19.000 Menschen, viele in selbstgebauten Zelten, und warten oft Jahre darauf, aufs Festland zu kommen.

Foto: Adelheid Wölfl

Sieben von zehn Kindern im Camp Moria, in den Olivenhainen unweit der Stadt Mytilini, sind unter zwölf Jahre alt. 42 Prozent der Menschen sind minderjährig.

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Die Zustände im Lager sind weitab von jeder Hygiene.

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Aya probiert gern Purzelbäume, und wenn er dann kopfüber auf seiner Decke landet, leuchten seine Augen vor Freude. Der vierjährige Syrer hat heute keine Schuhe an, weil seine Mutter, Nura Mando, alles waschen musste. Der Regen hat über Nacht das Zelt eingeschlammt. Nun haben die 20-Jährige und ihre beiden Kinder kein Dach über dem Kopf mehr. Ihre einjährige Tochter Beylisan war noch nicht geboren, als Nuras Mann in Rakka von einer Bombe getroffen wurde. Nuras Unterschenkel wurde damals aufgerissen, ein Granatsplitter traf auch Ayas Handgelenk, weshalb seine Purzelbäume manchmal schief ausfallen.

Vor zwei Monaten ist die Familie hier im Lager Moria auf Lesbos gelandet, davor war Nura mit den Kindern vier Tage lang in der Türkei eingesperrt. Eigentlich hätte die Familie Ende Dezember ins Lager Kara Tepe, das für besonders bedürftige Menschen gebaut wurde, gebracht werden sollen. Aber der Termin wurde nun auf Ende Jänner verschoben. So hüpfen Aya und seine verrotzte kleine Schwester Beylisan noch immer durch den Gatsch zwischen den Zelten.

Ab und zu rennen sie zum Nachbarzelt, wo ebenfalls Syrer leben. Davor gibt es ein offenes Feuer. Beylisan weiß noch nicht, dass Flammen gefährlich sein können. Ihre Fußsohlen haben ein paar Blasen. An diesem Weihnachtstag ist es zwar untertags warm, doch in der Nacht wird es sehr kalt. Nura wurde kürzlich eine Decke gestohlen, als sie in der Nacht zu einer der mobilen Toiletten-Boxen ging.

Hunderte Kinder ohne Betreuung

Die Familie Mando ist im Camp Moria registriert. Das Papier, das dies bezeugt, trägt Nura immer im Innenfutter ihres verdreckten weinroten Anoraks. Sie hat gute Chancen, Asyl zu bekommen. 86 Prozent der Syrer erhalten EU-weit einen Schutzstatus. Doch im Camp Moria kümmert sich niemand um Nura, Aya und Beylisan. Hier leben nicht nur viele Kleinkinder, sondern auch viele Teenager ohne Eltern. Von mehr als 1000 unbegleiteten Minderjährigen schlafen 800 im "wilden Lager", das sich um das eigentliche Aufnahmezentrum, ein früheres Militärareal, gebildet hat.

Im Aufnahmezentrum befinden sich etwa 5000 Menschen – eigentlich wurde es für 2800 ausgerichtet. In den Olivenhainen ringsum hausen laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR weitere 14.000 Menschen. "Immer mehr kommen, und gleichzeitig werden wenig Leute aufs Festland gelassen", erklärt Theodoros Alexellis vom UNHCR das Chaos. In der zweiten Dezemberwoche wurden 310 Flüchtlinge von der Insel aufs Festland gebracht, doch 1191 Menschen kamen gleichzeitig an der Küste an – im Vorjahr waren es im selben Zeitraum nur 206. 70 Prozent der etwa 20.000 Migranten auf der Insel sind Afghanen, 13 Prozent Syrer, vier Prozent Kongolesen und Somalier. 42 Prozent aller Flüchtlinge hier sind minderjährig – sieben von zehn der Kinder sind laut dem UNHCR unter zwölf Jahre alt.

Fest steht: So viele Menschen wie jetzt lebten noch nie in und um das Lager Moria. Weil es keine Unterkünfte gibt, zimmern sich die Menschen ihre Hütten selbst. Aus allen Ecken ist das Klopfen der Hämmer zu hören – aus Holzpaletten für den Boden und Holzstangen werden Gerüste gebaut, über die Plastikplanen gespannt werden. Rundherum graben meist Kinder Wassergräben, damit der Regen nicht ins Zelt fließt. Aus zahlreichen Feuerstellen steigt Rauch. Über dem Lager liegt ein Teppich von Geräuschen: Kinderrufe, Kinderweinen, arabische Musik aus dem Radio, afrikanische Lieder werden auf dem Hügel gesungen, und ab und zu hört man Schreie von Erwachsenen.

Zwei Stunden anstellen für Tabletten

Ein paar Buben rutschen die Hügelwege auf dem Schlamm hinunter. Sie wuseln zwischen den Unterkünften und den Müllhaufen, die in dem Zeltlabyrinth an jeder Kurve angesammelt werden. Die Berge aus blauen und schwarzen Plastiksäcken verursachen nicht nur starken Geruch, sie ziehen auch Ungeziefer an. Vor allem aber sind sie gefährlich, weil die Kinder die rundherum laufen und spielen, sich jederzeit infizieren oder an dem Metallmüll verletzen können. Die Müllentsorgung in Moria ist nicht nur unzureichend. Sie ist so schlecht, dass das Leben tausender Menschen gefährdet ist, insbesondere das der Kinder. Viele von ihnen tragen gar keine Schuhe, andere haben nur Plastikschlapfen ohne Socken. "Chkr, Chkr, Chkr": Wer an den Plastikhütten vorbeigeht, hört oft das Husten der Kleinen.

Manche haben glasige Augen. Die Eltern stellen sich oft zwei, drei Stunden an, bis sie in Container mit dem grünen Schild, auf dem "Doctor" steht, gelassen werden. Sie erhalten oft nur eine Tablette, Erwachsene bekommen oft nur den Rat, Wasser zu trinken. Die Gesundheitsversorgung im Camp Moria ist nicht nur unzureichend. Sie ist so schlecht, dass das Leben vieler Menschen gefährdet ist, insbesondere das der Kinder.

Fladen aus Lehm mit Gesichtern

Die Kleinen spielen gern mit Glasmurmeln oder backen Fladen aus Erde, die sie mit Mund und Augen aus Lehm verzieren, während ihre Eltern die echten Fladen an die selbstgebauten Backöfenwände klatschen. Ein paar Minuten braucht so ein Fladen, bis sich bräunliche Blasen bilden und er von der Ofenwand gelöst werden kann. Am Abend, wenn es finster wird, sieht man vom Hügel aus, überall die orange glühenden Öfen, eigentlich Tongefäße, die im Boden versenkt wurden, leuchten.

Pro Tag sollte es eigentlich drei Mahlzeiten für alle geben, doch weil das Camp so überbelegt ist, reicht es nicht immer, auch wenn man sich zwei Stunden lang anstellt. Deswegen kochen sich viele ihr Essen selbst. Der Supermarkt, ein paar Kilometer entfernt, ist zum Versorgungszentrum der Gestrandeten geworden. Manche schlupfen aber auch hungrig ins Zelt.

Der zwölfjährige Mustafa aus Afghanistan ist stolz, seine "Schule" herzuzeigen, in der er unter der Woche eine Stunde Englisch lernen kann. Die allermeisten Kinder haben diese Möglichkeit nicht. Ein paar Meter von den Waschbecken entfernt streiten ein paar junge Männer miteinander. Einer hebt eine Axt und droht den anderen. "Hier muss man immer aufpassen, die kämpfen oft miteinander!", erzählt Mustafa. "Du musst ganz schnell weitergehen!", fügt er hinzu und rennt weiter.

Mehr Kinder ans Festland

Alexellis vom UNHCR weist darauf hin, dass Migranten im Camp, insbesondere Kinder, Gewalt und auch sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Er fordert, dass mehr Leute ans Festland und damit in Schutz gebracht werden und dass sich andere EU-Staaten um die Familien annehmen. Ärzte ohne Grenzen wies bereits im Vorjahr darauf hin, dass ein Viertel der Kinder und Jugendlichen hier daran denken, sich selbst zu verletzten oder sich das Leben zu nehmen. Manche tun das auch.

Im eigentlichen Camp, das durch einen hohen Drahtzaun begrenzt ist, stehen neben den Containern Zelte, daneben wieder Container, dann wieder Container, dann wieder Zelte, die an Masten vertaut sind. Dazwischen ist oft nur ein halber Meter Platz. Und dazwischen hängen an Schnüren Kleidungsstücke zum Trocknen, wie bunte Fahnen sind die Hosen und Jacken oft auch an den Zäunen selbst aufgehängt.

Einige Leute haben ihre Hütten zu Geschäften umfunktioniert. Hier kann man Nägel, Hämmer, Sägen, Nüsse, Obst oder Henna kaufen. Weiter oben auf dem breiteren asphaltierten Weg ist ein Basar entstanden. Dort kann man neben Melanzani auch Ladegeräte für Handys und Mandarinen und angeblich auch Waffen und Drogen erstehen. Der Zaun ist jedenfalls aufgerissen – das offizielle und das inoffizielle Lager sind längst miteinander verbunden. In Moria kann man zusehen, wie alles außer Kontrolle gerät.

Gefahren in der Nacht

Ab und zu kommen blaue Busse, aus denen blau gekleidete Polizisten steigen und durchs Lager gehen. Doch die allermeiste Zeit gibt es hier niemanden, der für Sicherheit sorgt. Deshalb trauen sich insbesondere Frauen in der Nacht nicht aus den Zelten, um aufs Klo zu gehen. Denn sie laufen Gefahr, von Kriminellen bedroht und ausgeraubt werden. "Ali Baba", nennt das Nura Mando, "Tzapzerap" sagen andere zu den Diebstählen. Die Toiletten sind für viele weit von den Zelten entfernt und in der Dunkelheit schwer zu finden. Viele der Klos sind verschmutzt und angepisst. Die hygienischen und sanitären Bedingungen in Moria sind nicht nur unzureichend. Sie sind so schlecht, dass das Leben der Menschen gefährdet ist, besonders das der Kinder. (Adelheid Wölfl aus dem Lager Moria auf Lesbos, 26.12.2019)