Im Gastkommentar widmet sich der Politikwissenschafter Ulrich Brand der Frage, warum das Jahr 2019 ein ganz besonderes Jahr war und dass zukunftsweisende ökologische Politik eine Politik der Freiheit sein muss.

In diesen Tagen werden allerorten Rückblicke auf 2019, die "10er-Jahre" und Ausblicke auf 2020 unternommen. Vorausschauen auf das kommende Jahrzehnt hingegen sind eher verhalten. Dabei wäre genau dies notwendig.

Die zu Ende gehende Dekade begann mit der Bearbeitung der Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise. Dazu kam fast zeitgleich das Scheitern der Klimakonferenz in Kopenhagen 2009, die eine Art Weckruf darstellte. Der verhallte auf lange Sicht betrachtet allerdings weitgehend – das zeigten jüngst neuerlich die mageren Ergebnisse der Madrider Klimakonferenz. Mitte des Jahrzehnts dann der folgenreiche "Sommer der Migration" und eine beobachtbare Spaltung der Gesellschaft: einerseits eine enorme Solidarität vieler Menschen mit Geflüchteten, andererseits ein "Das Boot ist voll"-Diskurs und menschenfeindliche Migrationspolitiken, die nicht nur Politiker wie Sebastian Kurz, sondern noch ganz andere Kaliber wie Donald Trump groß gemacht haben. In vielen Ländern wurden dezidiert rechte und rechtsextreme politische Kräfte gestärkt, und es kam zu zunehmend autoritären Entwicklungen in Ländern wie China, wo die Kommunistische Partei panische Angst vor Kontrollverlust zu haben scheint.

Trotz dieser mächtigen Tendenzen könnte sich das Jahr 2019 historisch als Beginn einer Epochenwende herausstellen.

Solidarität und Ausgleich

Wenn wir die Perspektive der vom Sozialpsychologen Harald Welzer gegründeten Stiftung Futur Zwei einnehmen, dann öffnet sich eine spannende Perspektive auf das Heute. Was werden wir aus Sicht etwa des Jahres 2030 in einem Jahr wie 2019 und den darauf folgenden getan haben, damit ein Einlenken in ein ökologisch und sozial vernünftigeres Wirtschaften und Zusammenleben begann? Wie wird dann ein Umschwung in Richtung verstärkter gesellschaftlicher Solidarität und internationalen Ausgleichs sowie hin zu einer Politik, die in der notwendigen Abwägung von Interessen jenseits der Sonntagsreden die ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Zukunftsherausforderungen ernst nimmt?

Wenn das Jahr 2019 rückwirkend ein Wendepunkt gewesen sein wird, dann meine ich vor allem die noch vor einem Jahr nicht zu erwartende Bewegung Fridays for Future. Ein relevanter Teil jener Generation, die bis vor kurzem der Entpolitisierung und des Konsumismus geziehen wurde, stand politisch auf. Und auch der "Europäische Green Deal", den die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ankündigte, zeigt an, dass die ökologische Krise nun an der Spitze der politischen Agenda angekommen ist. Doch es wird noch ein langer und konfliktreicher Weg sein, um die mächtigen Interessen der auf fossiler Energie basierenden Branchen zurückzudrängen. Mit 2019 ist das im gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein angekommen.

Hat mit ihrem "Schulstreik für das Klima" Wellen geschlagen: die schwedische Schülerin Greta Thunberg.
Foto: APA/AFP/CRISTINA QUICLER

Parallelen zu 1968

Einer der interessantesten Aspekte von Fridays for Future besteht weniger darin, dass die Klimakrise im Zentrum steht. Trotz ihrer Beschleunigung ist das Problem bekannt. Vielmehr sprechen die Klimastreikenden von verweigerter Verantwortung der Politik und eines Großteils der älteren Generation. Und ihre Antwort darauf ist, dass zum einen dringend politisch gehandelt werden muss, inklusive eines sehr weitgehenden Umbaus des Wirtschaftssystems. Dass man aber auch bei sich selbst ansetzen muss, was gar nicht so einfach ist; Stichwort: Produktion und Nutzung.

Hier gibt es eine interessante Parallele zum Aufbruch von 1968: Die gesellschaftlichen Rahmen- und Lebensbedingungen und sich selbst zu verändern – damals hieß das "Politik in erster Person" – wird nicht gegeneinander ausgespielt im Sinne von hier die "große" Politik und hier "Klein-Klein". Beides bedingt einander.

Ähnlich wie im Dezember 1968 wohl kaum schon sichtbar war, welche gesellschaftspolitischen Auswirkungen auf die Politik das damals zu Ende gehende Jahr haben würde, so könnte das auch für 2019 zutreffen. Das Jahr wird nach und nach zur Chiffre für einen Aufbruch. Und der ist umkämpft: Das zeigen etwa die zunehmenden Denunziationen von Greta Thunberg und der Fridays-for-Future-Bewegung.

Demokratisierung der Demokratie

Nach Jahren der ausgerufenen "Post-Politik", in der liberale Demokratie, Wirtschaftswachstum und Elitenherrschaft nicht hinterfragbar sind, könnte 2019 dafür stehen, dass es auch um eine grundlegende Veränderung der Demokratie – mitunter wird das als Demokratisierung der Demokratie bezeichnet – und der kapitalistischen Ökonomie geht.

Die stattfindenden Aufbrüche müssen sich mit mächtigen Interessengruppen anlegen, wie der Rohrkrepierer des Klimapakets von September dieses Jahres in Deutschland zeigte, der die jüngere Generation nur weiter empört. Dieselbe Gefahr besteht bei den aktuellen Koalitionsverhandlungen hierzulande. Dazu kommen Konflikte mit jenen, die sich "F*ck Greta" auf den SUV-Stoßdämpfer kleben.

Politik der Freiheit

Eine der größten Herausforderungen wird darin bestehen, die Bearbeitung der ökologischen Krise nicht nur mit Verweisen auf Notwendigkeiten wie etwa das Zwei-Grad-Ziel zu begründen – also eines maximalen Anstiegs der globalen Durchschnittstemperatur von zwei Grad vom Beginn der Industrialisierung bis zum Ende dieses Jahrhunderts. So wichtig diese Orientierungsmarke ist: Zukunftsweisende ökologische Politik muss insbesondere eine Politik der Freiheit sein. Und dabei ganz anders als heute. Nicht als Freiheit, tun und lassen zu können, was man möchte – wobei dieses Tun- und Lassenkönnen eng mit dem Einkommen zusammenhängt: Flugreisen, SUV, Haus und Garten auf dem Land. Freiheit wird in Zukunft heißen, ein sinnerfülltes, sicheres und auskömmliches Leben zu führen, aber nicht auf Kosten anderer und der Natur.

Dabei sind soziale Bewegungen für Fridays for Future wichtig, weil sie für eine Kultur der gewollten Selbstbegrenzung einstehen – nicht für einen von außen auferlegten Verzicht. Keinen SUV mehr zu wollen oder in den Urlaub zu fliegen, wird wahrscheinlich aktuell eher an den Abendessentischen von Familien ausgehandelt.

Um diese Dynamiken aufzunehmen und zu verstärken, sollten die 2020er-Jahre eine Politik bringen, die kluge Regelsetzung betreibt. Nicht gegen die Freiheit, sondern für eine mögliche Freiheit und Zukunft für alle. Die neue Koalition könnte hier Zukunftsfähigkeit beweisen. (Ulrich Brand, 29.12.2019)