Ádám Fischer über Erfahrung: "Ich muss lernen, jeden Musiker individuell zu behandeln. Wo mehr Fantasie ist, dort gibt man mehr Freiraum."

Foto: Szilvia Csibi

Sich Ádám Fischer als Dirigenten vorzustellen, der abseits vom Weltenlärm über Modulationen und Phrasen brütet, um deren emotionalen Gehalt zu ergründen, ist ganz und gar nicht verfehlt. Fischer als desinteressierten Zeitgenossen zu definieren, dem Politik herzlichst egal ist, könnte allerdings falscher nicht sein. Der Ungar ist voll interessiertem Pessimismus, was etwa den Zustand seines Landes anbelangt, das von Viktor Orbán regiert wird: "Ich habe es schon gesagt und wiederhole es: Ungarn wird nie eine Demokratie, ein feudalistischer Instinkt wird immer bleiben. Wer regiert, hat das Sagen. Sollte Orbán einmal verlieren, werden zwei bis drei Millionen sagen, sie hätten ihn nie gewählt. Sie springen einfach auf die andere Seite."

In Österreich gebe es immerhin bewunderte Kulturfiguren wie Helmut Qualtinger und Thomas Bernhard, "sie sind hier Klassiker. In Ungarn gibt es ähnliche Typen, sie werden aber an den Rand gedrängt. Ungarn hätte nicht der EU beitreten sollen. Man setzte damals auf ,Erweiterung vor Vertiefung‘. Die Vertiefung hat allerdings bis heute nicht stattgefunden." Auch was Premier Orbán betrifft, ist Fischer ein Mann der Ernüchterung. "Das Problem ist: Er ist intelligent und weiß genau, was er macht, weiß, dass er die Gesellschaft mit dieser Ausgrenzung von Ausländern vergiftet. Es interessiert ihn nicht, auf welchen Wegen er das bekommt, was er braucht. Er wäre genauso ein guter Sozialdemokrat, wenn ihm das nützen würde."

Neue Biografie zu Fischer

Bei solch einer Diagnose verwundert es wenig, dass der Dirigent Orbán kein Kapitel aus der nun erschienenen Fischer-Biografie Die ganze Welt ist ein Orchester (Zsolnay) zum Lesen empfehlen möchte ("Er würd’ sie nicht lesen"). Als erfahrener Ring-Dirigent vermag er auch nicht zu bestimmen, in welcher Opernfigur der Wagner-Tetralogie sich ein Politiker wie Orbán am ehesten spiegeln würde. "So schlimm wie der ist niemand, so intelligente Typen gibt es dort nicht. Das Schlimme von Loge und Alberich – das vereint Orbán vielleicht."

Wenn es um Politik geht, tritt bei Fischer auch eine Befürchtung bezüglich der Demokratie im Allgemeinen zutage. "Mich sorgen die Fake-News in den sozialen Medien. Ihre Kontrolle fehlt, das ist die größte Gefahr für die Demokratie. BBC hat unlängst zwei Filme präsentiert: In einem fordert Boris Johnson auf, für Konkurrent Corbin zu stimmen. In dem anderen Film war es umgekehrt. Alles war gefälscht, sah aber so echt aus, dass man es ganz einfach in den sozialen Medien platzieren konnte. Die Demokratie ist gesund genug, um das durchzustehen. Wir müssen aber das Phänomen ,unkontrollierte Nachrichten‘ thematisieren." Bezüglich seiner Profession, jener des Orchesterleiters, ist Fischer quasi auch Demokrat, jedenfalls kein Apologet des diktatorischen Zugangs, wobei er natürlich klarere Anweisungen für nötig hält. "Ich musste da meine Erfahrungen machen. Ich musste lernen, jeden Musiker individuell zu behandeln. Wo mehr Fantasie ist, dort gibt man mehr Freiraum. Und wenn die Stelle heikel ist, schaut man besser nicht zum Kollegen hin." Es gehe darum, die individuellen Fähigkeiten zu nutzen: "Man muss das Ziel festlegen, aber den Weg dorthin auch den Kollegen überlassen."

Alles neu machen

Den Notengrübler Fischer sollte man jedoch nicht unterschätzen. "Je mehr ich in die Werke eintauche, desto mehr Fragen stellen sich. In dem Augenblick des Musizierens spüre ich Erfüllung. Nach jedem Konzert möchte ich aber alles neu machen. Es geht nicht um Perfektion, es geht um das Verstehen der Emotionen im Hintergrund. Jedes Stück hat einen Inhalt, auch wenn man ihn nicht verbal beschreiben kann. Das Leben ist natürlich zu kurz, um die Meisterwerke zu verstehen. Ich habe mich an dieses Dilemma gewöhnt."

Was den geheimen Gehalt von Noten anbelangt, war Nikolaus Harnoncourt für Fischer wichtig: "Er hatte recht: Man soll jedem Takt einen Inhalt geben, nach dem Motto: Ein Streichquartett ist eine Oper! Auch wenn ich nicht mit jeder seiner musikalischen Lösungen einverstanden war, ist sein Ansatz wichtig gewesen. Man soll nicht gedankenlos daherdirigieren! Für mich waren immer jene Kollegen bedeutsam, denen Interpretation wichtig war, die sich fragten, was jede Stelle in sich birgt. Sicher auch Carlos Kleiber. Er muss wegen seines hohen Anspruchs gelitten haben und ist wohl auch deshalb oft weggelaufen. Ich verstehe gar nicht, wieso er Oper dirigiert hat. Oper ist per se Kompromiss."

Der Budapester (Jahrgang 1949) muss es wissen. Er war einst in Graz Korrepetitor auch in Anwesenheit von Karl Böhm, für den er später in München bei Fidelio einsprang. Böhm habe den jungen Fischer übrigens mit seiner legendär "guten Laune" beschenkt: "Er sagte: ,Schwarz sind die Noten! Weiß ist das Papier! Sie sollen nur das Schwarze spielen!‘ Ich war fertig. Man sagte mir aber, ich sollte das nicht einmal ignorieren. Er mache das mit jedem." Fischers Stil ist das jedenfalls nie gewesen. (Ljubiša Tošić, 28.12.2019)