Das Ibiza-Video hat die Republik 2019 in seinem Bann gehalten und den Weg für eine neue Koalition frei gemacht. Im Gastkommentar beleuchtet Rechtswissenschafter Alexander Somek seinen Wert für die Demokratie. In seiner Kolumne beschäftigt sich Paul Lendvai unter anderem auch mit dem Ibiza-Video.

Für Heinz-Christian Strache eine "b’soffene G’schicht". Doch die Folgen des auf Ibiza aufgenommenen Videos beschäftigen die Innenpolitik auch noch 2020.
Foto: APA / Spiegel / Süddeutsche Zeitung

Gehören die Produzenten des Ibiza-Videos strafrechtlich verfolgt? Es scheint so. Das österreichische Strafgesetzbuch stellt in seinem Paragrafen 120 eine Person unter Strafe, die sich mittels eines Aufnahmegeräts von einer nichtöffentlichen und nicht zu ihrer Kenntnisnahme bestimmten Äußerung eines anderen Kenntnis verschafft. Strafbar ist unter anderem auch die Weitergabe zur Veröffentlichung solcher Aufnahmen.

Es dürfte also schlecht aussehen für alle, die daran beteiligt waren, Heinz-Christian Strache eine Falle zu stellen, und das Video weitergegeben haben. Was die Presse tun darf, steht auf einem anderen Blatt. Aber die Angelegenheit verdient einen zweiten Blick. Denn der Rechtsstaat ist kompliziert; aber so kompliziert auch nicht.

Im Prinzip darf man bei uns sagen, was man will, und wenn man etwas gefunden hat, dann darf man es herzeigen. Informationen dürfen verbreitet werden. Diesem Recht sind Grenzen gesetzt. Gezogen werden diese durch Gesetze, vor allem durch das Strafgesetz.

Aber dem Grenzenziehen sind selbst wieder Grenzen gezogen. Bestimmt werden sie durch das Verfassungsrecht. Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention gestattet es, etwa zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, die Kommunikationsfreiheit zu beschränken. Er gestattet es aber nur so weit, als eine Einschränkung aus den genannten Gründen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Aufgrund dieser Bedingung sind das Funktionieren der Demokratie und die Bedürfnisse einer wohlinformierten demokratischen Öffentlichkeit relevant dafür, welche Grenzen der Kommunikationsfreiheit gezogen werden dürfen.

Kein Delikt

Das Strafrecht begrenzt zwar die Kommunikationsfreiheit, und wer diese Grenzen überschreitet, macht sich strafbar; aber mitunter liegt ein Delikt gar nicht vor, auch wenn es so aussehen mag. Das ist der Fall, wenn das an sich verbotene Verhalten – die geheime Aufnahme und deren Weitergabe zur Verbreitung – gerechtfertigt ist. Für den, der für sein Verhalten über eine Rechtfertigung verfügt, ist die Kommunikationsfreiheit wiederhergestellt.

Zur Bestimmung einer solchen Rechtfertigung ist aber das Verfassungsrecht relevant. Denn das Verfassungsrecht setzt, wie oben erwähnt, der strafrechtlichen Begrenzung der Kommunikationsfreiheit selbst wieder Grenzen. Selbst wenn also das positive Recht lückenhaft ist und einen verfassungsrechtlich gebotenen Rechtfertigungsgrund nicht explizit vorsieht (wie es in Österreich der Fall zu sein scheint), muss die aufgetretene Lücke durch eine verfassungskonforme Rechtsfortbildung geschlossen werden.

Zu schwierig? Wohl nicht, denn der Rechtsstaat ist zwar kompliziert, aber so kompliziert auch wieder nicht.

Die Kommunikationsfreiheit kann umfangreicher oder geringer ausfallen. Ob sie umfangreicher oder geringer ausfallen soll, erkennt man mit Blick auf die Verfassung. Sie erhebt die demokratische Gesellschaft zum Wertmaßstab. Daher muss für die Beurteilung einer Rechtfertigung darauf geachtet werden, ob eine Verletzung der Privatsphäre oder des Rufes einer Person Informationen ans Licht bringt, deren Verbreitung zum demokratischen Prozess beitragen oder für diesen sogar unerlässlich sind. Wenn diese Voraussetzung gegeben ist, wäre eine Kriminalisierung des Verhaltens in einer demokratischen Gesellschaft nicht nur nicht notwendig, sie wäre sogar kontraproduktiv.

Wert der Demokratie

Unter welchen Voraussetzungen ein Verhalten unter diesem Vorzeichen gerechtfertigt sein kann, lässt sich nicht in eine starre Regel fassen. Das muss kontextspezifisch beurteilt werden. Der Schutz der Privatsphäre und des guten Rufes der Betroffenen ist gegen das öffentliche Interesse an der Information abzuwägen. Wenn dieses Interesse von überragender Bedeutung ist, weil die Information enthüllt, wie korrupt Regierungsmitglieder oder Volksvertreter sind, dann ist es in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig, die Gewinnung und Weitergabe dieser Information zu bestrafen. Denn ohne dieses Verhalten wäre dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht gedient.

Gewiss berühren die Produktion und die Weitergabe zur Veröffentlichung des Ibiza-Videos die Privatsphäre der Beteiligten. Was man zu sehen bekommt, ist zutiefst peinlich. Aber gemessen an der enormen politischen Relevanz dieser Information fällt die Indiskretion nicht ins Gewicht.

Der Rechtsstaat ist kompliziert, aber so kompliziert auch wieder nicht. In einer liberalen Gesellschaft, so sagte schon John Stuart Mill, sollten wir im Zweifel lieber zugunsten der Redefreiheit irren als zugunsten ihrer Beschränkung. Oder anders gesagt: Was ist schlimmer für den Rechtsstaat – zweifelhafte Charaktere in Regierungsverantwortung oder ein wenig zwielichtige Umstände bei deren Demaskierung? (Alexander Somek, 31.12.2019)