Theoretisch sollte sich der Weg jeder einzelnen Kugel vorhersagen lassen, wenn man jeden noch so winzigen Faktor kennt, der Einfluss nehmen könnte. Oder doch nicht?
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Wien – Wenn man die Positionen der Kugeln auf einem Billardtisch genau kennt und außerdem noch weiß, wie schnell und in welche Richtung die weiße Kugel angestoßen wurde, lässt sich mithilfe der Gesetze der klassischen Mechanik genau vorhersagen, wo jede einzelne Kugel schließlich landen wird – zumindest theoretisch.

Um tatsächlich eine exakte Voraussage treffen zu können, müssten auch noch die Anfangsbedingungen jedes physikalischen Teilchens im Tisch und in der Luft bekannt sein. Das mag in der Praxis vielleicht unmöglich sein, dennoch ist der Determinismus, also die Auffassung, dass alle Ereignisse durch ihre Anfangsbedingungen eindeutig festgelegt sind, eine der Grundthesen der klassischen Physik.

Und es macht einen grundlegenden Unterschied zur Quantenpyhsik aus: In der vor knapp hundert Jahren formulierten Kopenhagener Deutung der Quantenphysik spielt der absolut unvorhersehbare Zufall eine zentrale Rolle und verhindert konkrete Vorhersagen. Es ist die Antithese zum Determinismus.

Möglicher Brückenschlag

Doch vielleicht gibt es zwischen den (vermeintlichen?) Gegenteilen mehr Gemeinsamkeiten, als man glauben würde. Ein Wiener Physiker fordert nun nämlich die gängige Sichtweise gemeinsam mit einem Schweizer Kollegen heraus. Grundtenor: Auch in der klassischen Physik gebe es eine Komponente der Unvorhersehbarkeit. Das Paper der beiden ist im Fachjournal "Physical Review A" erschienen.

Genauso wie auch deterministische Interpretationen der Quantenmechanik existieren, hat Flavio Del Santo vom Institut für Quantenoptik and Quanteninformation (IQOQI) der ÖAW und der Fakultät für Physik der Uni Wien mit seinem Kollegen Nicolas Gisin von der Universität Genf eine nicht-deterministische Interpretation der klassischen Physik formuliert. "In unserer Beschreibung sind auch klassische mechanische Vorgänge in der Zukunft verschwommen, und nicht eindeutig vorhersehbar", so Del Santo.

Verschwommene Zukunft

Zur Veranschaulichung dient den Physikern das Spiel "Bagatelle", bei dem eine Kugel eine schiefe Ebene hinabrollt und dabei auf Hindernisse stößt, an denen sie entweder links oder rechts vorbeirollen kann. Während für das unmittelbar bevorstehende Hindernis noch eine genaue Vorhersage möglich ist, auf welcher Seite es die Kugel passieren wird, sind der neuen Sichtweise zufolge die Ausgänge der weiter in der Zukunft liegenden Ereignisse noch völlig unbestimmt.

"Ob die Kugel an diesen Hindernissen links oder rechts vorbeirollt, ist unserer Interpretation zufolge nicht vorher festgelegt. Der Ausgang wird erst dann konkret, wenn sich die Kugel dem Hindernis nähert", sagte Del Santo. Das entspreche in etwa dem Bild aus der Quantenmechanik, wo der Zustand eines Systems erst zum Zeitpunkt der Messung festgelegt wird. "Unsere neue Sicht der Dinge ändert aber natürlich nichts am letztendlichen Ausgang des Experiments", so Del Santo. Die beiden Interpretationen mit oder ohne Determinismus ließen sich experimentell nicht voneinander unterscheiden und seien so gesehen gleichwertig. (red, APA, 3. 1. 2020)