Souvenirs aus mehr als zwei Jahrzehnten als Korrespondent: Bleistifte und Radiergummis aus dem chinesischen Volkskongress.
Foto: Johnny Erling

Nach Wochen auf See traf der aus China kommende Container kurz vor Jahreswechsel in meiner neuen Wahlheimat Bad Homburg im deutschen Bundesland Hessen ein. Nach 22 Jahren als Korrespondent für den STANDARD war der Umzug aus Peking für mich und meine Frau Zhao Yuanhong somit abgeschlossen.

Nach so langer Zeit in China hatten wir natürlich besondere Souvenirs im Gepäck – etwa eine Sammlung mehrfarbiger Bleistifte und Radiergummis. Auf ihnen steht auf Chinesisch: "Große Sitzung der Volksvertreter" und "Große Halle des Volkes" – so heißt das Pekinger Parlamentsgebäude am Tian’anmen-Platz, am Platz des Himmlischen Friedens.

Für mich sind es Zeitzeugnisse. Ausländische Journalisten können zuhören, wenn sich Chinas 3000 Abgeordnete einmal im Jahr zum Volkskongress treffen. Der Ministerpräsident eröffnet die zweiwöchige Session mit seinem Rechenschaftsbericht zur Lage der Nation, stellt den neuen Jahresplan vor. Das geschieht immer am 5. März um neun Uhr. Es ist – wie alles im Volkskongress – längst zum Ritual geworden.

Tags darauf dürfen die Abgeordneten in Kleingruppen mit vorbereiteten Reden den Bericht des Premiers loben. In allen Jahren als Zaungast habe ich nicht einmal Kritik gehört oder miterlebt, dass ein Vorhaben der Regierung abgelehnt wurde. Für den STANDARD interviewte ich die 1929 geborene Bäuerin und Abgeordnete Shen Jilan. Vom ersten Volkskongress 1954 an nahm sie an allen Treffen bis 2019 teil. "Ich habe nie mit Nein gestimmt, weil alle von der Partei gefassten Beschlüsse korrekt sind."

Beginn einer Sammlung

Solche Antworten schätzt Peking, auch wenn es nach außen behaupten lässt, dass die Volksvertreter viel zu sagen und zu schreiben hätten. Zu jeder Sitzung werden eigens für sie produzierte Bleistifte ausgelegt. Mit Radiergummis. Ich sah selten jemanden, der sich Notizen machte.

Meinen ersten Radiergummi ergatterte ich 1998, und den letzten steckte ich vergangenen März ein. Sie erinnern mich daran, wie wenig der Volkskongress mit einem Parlament im westlichen Sinn gemein hat. 1980 wurde mit politischen Reformen für mehr Mitbestimmung des Parlaments experimentiert. Sie verliefen im Sand.

2012 kam Chinas neuer Parteichef Xi Jinping an die Macht. Ich schaute von da an, ob nun ein neuer Wind weht und die mit Smartphones ohnehin nicht kompati blen Radiergummis endlich verschwinden würden. Ich wurde enttäuscht. Dafür schwoll meine Sammlung an.

Chinas Gesellschaft ist trotz ihrer äußerlichen Öffnung, trotz Reisefreiheit und trotz wachsenden Wohlstands nach innen eine abgeschlossene Welt geblieben mit erstarrten Regeln und Normen. Xi hat aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Lehre gezogen, dass er sein System nicht politisch reformieren darf, sondern schützen muss. Unter seiner Herrschaft stülpt die Partei der Gesellschaft in allen Bereichen ihre marxistische Ideologie erneut über.

Auf tönernen Füßen

Der vermeintlich so starke KP-Chef macht keinen Hehl daraus, dass er weiß, auf welch tönernen Füßen sein Weltreich steht, das unter ihm erstmals nach außen expandiert – vom Südchinesischen Meer bis zur neuen Seidenstraße. Er vertraut nicht der mit 90 Millionen Mitgliedern größten KP der Welt. Auch seine eigene Machtfülle und unbeschränkte Amtsdauer, die er sich vom Volkskongress mit 100 Prozent bewilligen ließ, hält er nicht für ausreichend.

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Staats- und Parteichef baut vor, um die Macht der KP und seine eigene – zu erhalten.
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In seinen Reden 2019 verlangte Xi, die ideologische Mobilisierung aller Parteimitglieder und beständige Indoktrination der Gesellschaft zu verstärken, um seine Führung und die KP-Herrschaft zu verteidigen. Im Westen wird nicht erkannt, welche Ängste Chinas Führung vor einer Implosion ihres Systems umtreiben. Das erklärt auch ihre vielen Fehleinschätzungen jüngster Krisen – ob es um den von ihr unterschätzten Handelskrieg mit den USA geht, um ihre gescheiterte Minderheitenpolitik in der Provinz Xinjiang oder um ihre unbekümmerten Reaktionen auf Hongkongs Proteste.

Es erklärt auch, warum Pekings Partei so sehr die Entwicklung von Hightech und künstlicher Intelligenz forciert: Sie erhofft sich Lösungen für ein perfektes Sozialmanagement der Gesellschaft – der neue kommunistische Traum, den der deutsche Sinologe Sebastian Heilmann "digitalen Leninismus" nennt.

Kontrolle über das Internet

Heerscharen von Ingenieuren tüfteln dafür seit Jahren an einem dystopischen Kontrollnetzwerk, um nach 2020 mithilfe von Bonitätssystemen und Sozialkreditpunkten Chinas Wirtschaft und Gesellschaft zentralisiert lenken und überwachen zu können. Von Anfang an nutzte Chinas Regierung dafür auch das Internet. Mich verblüffte, wie schnell sie die Sprengkraft freier Information entschärfen, die Möglichkeiten zu dezentraler Mobilisierung ausschalten und den Datenschutz ausklammern konnte.

Heute ist die Volksrepublik führend bei IT-Techniken zur Entwicklung von künstlicher Intelligenz – ob für den Bau von Smart Citys, eine bargeldlose Wirtschaft, autonomen Verkehr oder einen für die Behörden gläsernen Bürger. Nur einem autoritär regierten Land ist dies möglich.

Weit mehr als die Hälfte der 1,4 Milliarden Chinesen sind online vernetzt. Sie sollen dafür bald mehrheitlich den weltweit modernsten Mobilfunkstandard der fünften Generation (5G) nutzen können. Mit enormem technischen Aufwand lässt der Staat zugleich das freie Internet blockieren, wie es bisher kein anderes Land vermochte.

So, wie sich das Reich der Mitte im Altertum durch seine Große Mauer vor dem Einfall nördlicher Barbarenstämme schützte, will es unliebsame Informationen aus dem Ausland durch seine virtuelle "Große Firewall" abwehren. Peking verteidigt sein Recht auf allumfassende Zensur. Es versucht, seine Vorstellungen vom Vorrang staatlicher Souveränität im Internet international zu verankern. Es negiert die eigentliche Idee vom grenzenlosen, freiheitlichen Netz.

Widerstand auf Geldscheinen

Allmählich werden aber auch in China Rufe nach dem Schutz der Privatsphäre laut. Widerstand äußert sich in vielen Formen, wie ich nach und nach entdeckte. Besonders fantasiereich wehrt sich die seit 1999 als kriminelle Sekte verbotene und vom Staat brutal verfolgte, religiös-inspirierte Meditationsbewegung Falun Gong. Sie nutzt dafür Chinas Papiergeld und druckt auf die Rückseite der Geldscheine ihre Aufrufe zum Sturz der chinesischen Partei und macht missionarische Werbung für ihre Glaubensgemeinschaft.

Falun Gong wehrt sich gegen Chinas Führung mit antikommunistischen Parolen, die sie technisch raffiniert auf offizielle chinesische Banknoten druckt und massenweise in Umlauf bringt.
Foto: Johnny Erling

Trotz drakonischer Strafverfolgung und Razzien sind unzählige solcher Scheine – in der gleichen Farbe bedruckt wie die regulären Geldscheine – im Umlauf. Auf den ersten Blick fallen sie nicht auf. Es sind die weltweit einzigen antikommunistischen Flugblätter, für die man sich etwas kaufen kann. Sie wandern von Hand zu Hand.

Ich fragte Obsthändler, Taxifahrer, Zeitungsverkäufer und in Restaurants, nachdem ich solche bedruckten Banknoten immer wieder erhielt: "Ich gebe das Geld immer schnell weiter", zuckten sie nur mit der Achsel. "Dai zi" werden die Scheine genannt – Geld "mit Schriftzeichen darauf".

Die Zentralbank versuchte nun auf ihre Weise, dem Problem beizukommen. Im August 2019 setzte sie ihre fünfte Serie neuer Banknoten seit 1999 in Umlauf. Sie begründete die kostspielige Ausgabe in einer Zeit, wo überall der bargeldlose Zahlungsverkehr zunimmt, so: Das neue Geld sei besonders fälschungssicher. Was sie nicht sagte: Das Papier ist glatter als die alten Noten – und damit schwerer zu bedrucken.

Chinas Rekordeifer

Während meiner Arbeit als Korrespondent erlebte ich die letzten zehn Jahre als eine Zeit ungeheurer Dynamik, aber auch übertriebenen Pekinger Ehrgeizes. China übertraf sich mit technischen Weltrekordleistungen – wie etwa damit, in nur einer Dekade ganz China verkehrstechnisch zu revolutionieren und mit 35.000 Kilometern Hochgeschwindigkeitstraßen zu erschließen. Wirtschaftlich überholte die Volksrepublik Japan, wurde zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt, damit aber zugleich Herausforderin der USA auf allen Gebieten – strategisch, global, militärisch und technologisch.

2019 wurde mit dem verlustreichen Handels- und High techkrieg mit den USA, sinkendem Wirtschaftswachstum und einem weltweiten Image-GAU durch die Xinjiang-, Hongkong- und Taiwan-Politik zum Unglücksjahr für die Volksrepublik. Peking verschuldete viel davon selbst durch seinen Stillstand bei wirtschaftlichen und politischen Reformen.

Während ich noch mein Umzugsgut sichte, erreicht mich eine Nachricht aus China: Die nächste Jahrestagung des Volkskongresses beginnt am 5. März 2020, wurde Ende Dezember beschlossen. Alles wie gehabt also. Schade nur, dass ich mir keinen weiteren Radiergummi mehr holen kann. (Johnny Erling, 4.1.2020)