Beim ersten Mal als Kanzler überging Sebastian Kurz alte Besetzungsmuster. Jetzt wurden Bünde und Länder wieder bedacht.

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Wien/St.Pölten – Wenn das Waidhofner Kammerorchester auf Einladung der Niederösterreichischen Hypo im St. Pöltner Festspielhaus aufspielt, dann trifft man im Publikum alles, was im Land Rang und Namen hat – was in Niederösterreich mit einer gewissen ÖVP-Nähe gleichzusetzen ist. Am Pult steht bei diesen Konzerten Wolfgang Sobotka, der als Dirigent vor Energie und als Moderator vor Charme sprüht – eine wenig bekannte Seite des Nationalratspräsidenten.

Aber die musikalischen Leistungen und die sachkundigen Kommentare, die Sobotka zur Familie Strauß und deren Kompositionen abgibt, sind an diesem Donnerstagabend nur Teil der Abendunterhaltung. In der Pause feiern die an der Sektbar zusammenstehenden ÖVP-Politiker nicht nur das neue Jahr und den Dirigenten aus ihren Reihen, sondern auch das Regierungsprogramm und die Regierungsmannschaft, an deren Zustandekommen Sobotka mitverhandelt hat.

Und, wie man rundum feststellt: sehr erfolgreich und zufriedenstellend verhandelt hat. Denn in einer Partei wie der ÖVP wird sehr genau beobachtet, welche Partikularinteressen bei der Erstellung eines Regierungsprogramms berücksichtigt worden sind. Noch mehr Aufmerksamkeit findet traditionell, welche personellen Weichenstellungen bei der Zusammensetzung des Teams getroffen worden sind.

Schwarze Machterhaltungsstrategie

Die niederösterreichische Volkspartei kann in dieser Hinsicht mehr als zufrieden sein: Aus ihren Reihen wird Klaudia Tanner ein Ministeramt bekommen – sie war bisher Landtagsabgeordnete, Stellvertreterin der Landesparteiobfrau und Direktorin des mitgliederstarken Niederösterreichischen Bauernbunds, dessen Kampagnenfähigkeit zu den größten Stärken der Landespartei gehört. Tanners Bauernbündler sind bis in den letzten Winkel des Landes unter der Enns vernetzt – und umgekehrt kennt man die durchsetzungsstarke Agrarmanagerin, die bundespolitisch ein unbeschriebenes Blatt ist, eben in den Weiten Niederösterreichs umso besser.

Länderinteressen befriedigen und die Bünde mit entsprechendem politischem Einfluss ausstatten – das ist die alte schwarze Machterhaltungsstrategie, bewährt seit den Gründungstagen der Volkspartei im Jahr 1945. Der niederösterreichische Bauernbund-Direktor aus den 1930er-Jahren, Leopold Figl (1902–1965), gründete die Partei gemeinsam mit dem Unternehmervertreter Julius Raab (1891–1964) und dem christlichen Gewerkschafter Leopold Kunschak (1871–1953) – als Volkspartei sollte die ÖVP sozial integrierend wirken, die Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern und der für die Ernährung zuständigen (nach dem Krieg besonders bedeutenden) Bauern parteiintern ausgleichen.

"Wasserkopf Wien"

Das Problem war, dass Figl und Raab Niederösterreicher waren, Kunschak aus Wien kam – und Österreich im April 1945 teilweise sowjetisch besetzt war, während der Rest des Landes noch deutsches Reichsgebiet war, das erst von den Westmächten befreit werden musste. Als das passiert war, galt es, die konservativen Kräfte der neu errichteten westlichen Bundesländer zu überzeugen, dass die in Ostösterreich bereits etablierte ÖVP weder den aus der Ersten Republik gefürchteten "Wasserkopf Wien" repräsentierte noch gar eine Marionette der Kommunisten darstellte.

Daher wurde "den Ländern" in der ÖVP schon 1945 besonderes Gewicht und Mitspracherecht eingeräumt – was diese nie abgegeben haben. Das hat mehrfach dazu geführt, dass Parteichefs gestürzt wurden, wenn sie bundespolitisch nicht so erfolgreich waren wie die bei Landtagswahlen an strahlende Siege gewohnten "Landesfürsten". Aufgrund der föderalistischen Struktur der Partei sitzen diese auch noch auf dem Großteil der Mitgliedsbeiträge.

Kurz hat mit der Tradition gebrochen

Sebastian Kurz hat dieses System 2017 erfolgreich durchbrochen. Damals war es noch legal, dass sich Kurz seinen Wahlkampf durch Spenden finanziert hat – und damit von Landesorganisationen und Bünden finanziell und weitgehend auch organisatorisch unabhängig geworden ist.

Zum System Kurz gehört auch, dass er bei den Personalbesetzungen die etablierten Parteiorganisationen übergangen hat – 2017 berief er kein einziges Kabinettsmitglied, das bereits vorher in einer Regierungsfunktion gewesen wäre, und auch bündische Interessen spielten keine Rolle.

2020 sieht das ganz anders aus. In der aktuellen Mannschaft gibt es zwar auch viele unbekannte Gesichter, sie ist aber fein austariert: neben der Bauernbündlerin aus Niederösterreich eine Wirtschaftsbündlerin aus der Steiermark; neben der stellvertretenden ÖAAB-Obfrau aus Salzburg die Wirtschaftsbündlerin aus Tirol; neben dem Wiener Landesparteiobmann der ehemalige Wirtschaftsbund-Direktor aus Vorarlberg; neben dem Ex-ÖAAB-Generalsekretär die Ex-Jungbauern-Chefin.

Die türkisen Konzertbesucher in St. Pölten haben das aufmerksam registriert. Dass die aktuelle Personalauswahl von Kurz einem uralten Muster entspräche, mag aber keiner bestätigen. Kurz sei halt "ein guter Stratege", hört man hier. Die höhere Zahl an Posten habe eben mehr Möglichkeiten geboten, hört man dort. Und stets der Hinweis, dass Kurz ja freie Hand in seiner Auswahl gehabt habe. Er habe sie klug genutzt. Aber jetzt, sagt eine hohe Parteifunktionärin, "jetzt muss das Team auch liefern". (Conrad Seidl, 5.1.2019)