Der Bundeskongress muss eine schwierige Abwägung treffen.

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Ist es das wert? Diese Frage stellen sich heute der grüne Bundeskongress und die Parteibasis. Lohnt sich eine Koalition mit der ÖVP wirklich? Angesichts eines Regierungsprogramms, das stellenweise wie eine Alleinregierung von Sebastian Kurz klingt. Angesichts von Vorhaben wie der Sicherungshaft und von "Rückkehrzentren", welche die Grünen aufs Heftigste bekämpft haben.

Schwierige Kompromisse

Ist es das wert, sich mit einem Partner zusammenzutun, von dem die Grünen wissen, dass er sie eiskalt fallenlassen wird, sobald die ÖVP-Umfragewerte sinken? Sobald Gefahr droht, dass die ÖVP einen Teil jener 250.000 Stimmen verlieren könnte, die sie bei der Nationalratswahl von der FPÖ geholt hat. Sobald der Koalitionspartner den Eindruck gewinnt, er könnte sich durch ein Ende der Partnerschaft einen Vorteil verschaffen.

Ist es das wert, ein Programm zu unterstützen, das inhaltlich teils so wirkt, als hätte die FPÖ daran mitgeschrieben? Entweder, weil sich die Kurz-ÖVP den Positionen der FPÖ in vielen Punkten stark angenähert hat, oder, weil sich die Partei eine spätere Zusammenarbeit mit dem Ex-Partner offenhalten möchte. Mit ganz und gar nicht grünen Positionen etwa bei der Migration, wie dem Kopftuchverbot.

Vage CO2-Steuer

Ist es das wert, mit einer erstaunlich vagen Verteuerung des CO2-Ausstoßes Gefahr zu laufen, die eigene Wählerschaft zu verärgern, die sich hier mehr Mut erwartet hätte? Mit vielen "Taskforces" und Arbeitsgruppen, die "evaluieren" sollen? Deadline: offen.

Dafür, dass Österreich eine weitere Koalition aus ÖVP und FPÖ samt Einzelfällen erspart bleibt. Dafür, dass Österreich sich zu Klimaschutz-Zielen bekennt, die weit über die EU-Ziele hinausgehen. Dafür, dass das Amtsgeheimnis endlich einem Informationsfreiheitsgesetz weichen soll und der Rechnungshof die Parteifinanzen besser kontrollieren darf. Dafür, dass die Armutsbekämpfung ernst genommen wird. Dafür, dass die Grünen nun erstmals im Bund die Chance bekommen, in Regierungsverantwortung gestalten zu können.

Es wäre keine Zusammenarbeit aufgrund inhaltlicher Nähe – die Überschneidung der beiden Parteien liegt nach STANDARD-Berechnungen bei nur 16 Prozent. Es entsteht gar nicht erst der Anschein, dass sich Werner Kogler dem Kurz’schen Politikmarketing unterordnet und die beiden eine Harmonie-Show inszenieren. Auch haben die grünen Verhandler Risikomanagement betrieben und sich für den Fall des Falles abgesichert. Es gibt ein klares Exit-Szenario: Wenn sich ÖVP und Grüne bei einer "Krise im Bereich Migration und Asyl" nicht einig werden, greift ein Mechanismus, der in der Praxis wohl zum Ende der Koalition führen würde.

"Leben und leben lassen"

Angesichts der sehr unterschiedlichen Positionen der beiden Parteien gibt es erst gar nicht den Versuch, sich bei unvereinbaren Punkten auf einen faulen Kompromiss zu einigen. Vielmehr gibt es ein Nebeneinander; es gilt das Motto "Leben und leben lassen": Die ÖVP will bei der Ausländerpolitik einen harten Kurs fahren? Soll sie. Dafür muss die ÖVP eben bei grünen Anliegen wie bei der Transparenz und dem Klimaschutz mitstimmen. So gibt es die Chance, dass bei überfälligen Themen etwas weitergeht, die Parteien aber zugleich sich selbst und ihrer Wählerschaft treu bleiben können.

Unter all den Optionen ist Türkis-Grün die vernünftigste. Und eine Koalition der Vernunft hat das Potenzial, dem Land gutzutun. Also: Ja, den Versuch ist es wert. (Martin Kotynek, 4.1.2020)