Inmitten der Pracht des barocken Winterpalais mit seinen goldgezierten Prunkräumen ein einfacher Bürotisch: Hier hat Kurz wochenlang verhandelt.

Foto: Matthias Cremer

Am Dienstag um 11 Uhr ist es so weit: Dann wird Bundespräsident Alexander Van der Bellen erneut Sebastian Kurz als Kanzler angeloben. Wenig später wird der ÖVP-Chef die Präsidentschaftskanzlei verlassen, über den Ballhausplatz spazieren und im Bundeskanzleramt neuerlich das Chefbüro beziehen: Die feierliche Amtsübergabe mit Kanzlerin Brigitte Bierlein, die sich am Sonntag per Video von den Österreichern verabschiedet hat, ist für 12.30 Uhr anberaumt. Doch bevor es so weit ist, lädt Kurz Journalisten in Prinz Eugens Winterpalais ein. An einem einfachen Bürotisch mit zwei stapelbaren Stühlen bittet Kurz Platz zu nehmen – mitten in all der vergoldeten Pracht, die das Palais prägt. Es ist jener Tisch, an dem Kurz mit Werner Kogler unter vier Augen verhandelt und das türkis-grüne Programm besiegelt hat.

STANDARD: An diesem Wochenende hat es eine Cyberattacke auf das Ihnen ja wohlvertraute Außenministerium gegeben. Wie die Analyse des Ministeriums ergeben hat, steckt wahrscheinlich ein staatlicher Akteur dahinter. Ein unfreundlicher Akt vor Ihrem Regierungsantritt?

Kurz: Cyberangriffe sind etwas, was in unserem Jahrhundert mehr und mehr zum Alltag wird. Dieser Angriff zeigt auf, dass es keine absolute Sicherheit gibt – und dass gleichzeitig die Notwendigkeit besteht, auch in diesem Bereich noch besser zu werden. Was sich heute gegen das Außenministerium gerichtet hat, kann sich morgen gegen ein Energieunternehmen, einen großen Arbeitgeber oder eine andere Institution in Österreich richten.

STANDARD: In den vergangenen Jahren hat es seitens des Bundesheeres und seitens anderer Stellen durchaus Vorkehrungen gegeben, auch Übungen, in denen solche Szenarien und die Reaktionen darauf trainiert wurden. Das inkludiert die Möglichkeit, einen Gegenschlag zu führen. Sollte man einen solchen Gegenschlag durchführen?

Kurz: Ein Gegenschlag ist nicht unser Ziel. Unser Ziel ist herauszufinden, wer dahintersteckt, damit wir und unsere europäischen Partner solche Angriffe noch besser abwehren können.

STANDARD: Nun ist aber so ein Angriff vergleichbar damit, dass Spezialeinsatzkräfte eines fremden Staates auf dem Minoritenplatz landen und auf das Außenministerium schießen. Da würde man wohl nicht sagen: "Wir versuchen herauszufinden, wer das ist"; da würde man wohl aktiv werden!

Kurz: Es ist nicht ganz das Gleiche, aber Sie haben recht, dass so etwas kein Kavaliersdelikt ist. Es ist eine moderne Form des Angriffs und auch als solcher zu werten.

STANDARD: Zur Koalition: Vor zwei Jahren, ja sogar noch vor einem Jahr haben Sie den Eindruck vermittelt, die damalige türkis-blaue Koalition sei auf zwei Legislaturperioden angelegt. Auf wie lange ist die türkis-grüne Koalition angelegt?

Kurz: Mit solchen Prophezeiungen bin ich vorsichtig. Aber Ihre Beobachtung stimmt, dass ich mit der inhaltlichen Arbeit der ÖVP-FPÖ-Koalition sehr zufrieden war. Skandale und insbesondere das Liebäugeln mit Korruption im Ibiza-Video haben diese Zusammenarbeit zerstört. Nach der Wahl waren wir mit der Situation konfrontiert, dass die Freiheitliche Partei nicht bereit war, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Die Sozialdemokraten waren zwar bereit, aber aus unserer Sicht war die Lage dort mehr als nur unübersichtlich. Die Grünen – und insbesondere Werner Kogler selbst – haben auf mich den Eindruck gemacht, einen positiven Beitrag in einer Regierung leisten zu wollen. Ich glaube, dass die Entscheidung für Koalitionsverhandlungen die richtige war und dass das Ergebnis ein gutes ist. Sowohl ÖVP als auch Grüne haben ihre Zustimmung in den zuständigen Gremien erteilt – und jetzt freue ich mich darauf, Österreich weiter zum Positiven zu verändern.

STANDARD: Woran wird man als Bürger als Erstes merken, dass eine türkis-grüne Regierung im Amt ist?

Kurz: Man wird es daran merken, dass wir wieder eine handlungsfähige Regierung haben, die auch auf europäischer Ebene klar die österreichischen Interessen wahrt und sich aktiv einbringt. Innerhalb Österreichs werden unsere ersten Maßnahmen steuerliche Entlastungen sein, aber auch Ökologisierungsmaßnahmen.

STANDARD: Ist das jetzt die ökosoziale Marktwirtschaft, mit der Josef Riegler vor mehr als 30 Jahren angetreten ist?

Kurz: Hoffentlich. Denn die ökosoziale Marktwirtschaft ist und bleibt das richtige Konzept – nicht nur für Österreich, sondern weit darüber hinaus. Wir werden immer darauf schauen müssen, dass der Wirtschaftsstandort ein guter ist und die Menschen Arbeit haben, von der sie auch leben können. Denn der Sozialstaat ist keine Selbstverständlichkeit, er funktioniert nur, wenn es Menschen gibt, die jeden Tag in der Früh aufstehen, am Erwerbsleben teilnehmen und durch ihre Steuerlast einen Beitrag leisten. Gleichzeitig brauchen wir einen nachhaltigen Umgang mit der Schöpfung.

STANDARD: Sie haben die internationale Dimension der ökosozialen Marktwirtschaft angesprochen: Derzeit schaut man ja in den internationalen Medien genau auf das türkis-grüne Experiment.

Kurz: Ich fühle mich den Österreicherinnen und Österreichern verpflichtet – und nicht den Medien, schon gar nicht den internationalen Medien. Wir haben diese Koalition vereinbart, um gute Arbeit für unser Land zu leisten. Das wird einmal positiv, einmal negativ kommentiert werden – ich habe beides schon erlebt, ich halte beides gut aus.

STANDARD: Aber ein bisserl schmeichelt es schon der Eitelkeit?

Kurz: Schon oft habe ich erlebt, wie an einem Tag Euphorie und am anderen Weltuntergangsstimmung herrscht. Ich lasse mich durch all das nicht mehr beeindrucken. Daher habe ich mir vor langer Zeit geschworen, das zu machen, was ich für richtig halte. Und nicht das, was dem Zeitgeist entspricht und in den Medien gerade gut ankommt.

STANDARD: Viele Projekte im Regierungsprogramm sind sehr vage formuliert – man will in gezählten 84 Punkten "evaluieren". Müssen wir jetzt mit 84 Mal Regierungskrise rechnen, weil "Evaluierungen" unterschiedlich interpretiert werden?

Kurz: Nein. Sie zitieren hier einzelne Worte aus einem Papier, das über 300 Seiten stark ist. Ich habe jetzt mehrere Regierungsprogramme mitverhandelt und kann Ihnen sagen: In weiten Teilen ist dieses Programm sehr konkret und klar darin, was wir vorhaben. Wir haben ein gemeinsames Verständnis, in welche Richtung wir Österreich verändern. Es gibt ganz klare Ansätze im Bereich der Ökologisierung. Im Sicherheitsbereich setzen wir unsere klare Linie fort ...

STANDARD: Beim Bundeskongress der Grünen am Samstag ist von den Delegierten die Sicherungshaft breit abgelehnt worden. Wie wird man das umschiffen?

Kurz: Werner Kogler und ich haben immer ein klares Bild davon gehabt, was dem jeweils anderen wichtig ist. Mir war immer klar, dass es die Koalition nur geben wird, wenn der Kampf gegen den Klimawandel intensiviert wird. Und für Werner Kogler war von Anfang an klar, dass für uns als Volkspartei die konsequente Linie im Migrations-, Integrations- und Sicherheitsbereich Bedingung ist.

STANDARD: Aber es beginnt ja schon mit den Interpretationen: Auf dem Bundeskongress hat Rudolf Anschober das Koalitionsübereinkommen dahingehend interpretiert, dass es keine neuen Abfangjäger geben wird.

Kurz: Wir haben über das Thema gesprochen. Werner Kogler und ich, wir wollen beide ein funktionierendes Bundesheer. Die Details werde ich nicht über die Medien verhandeln. Ich bin froh, dass der grüne Bundeskongress so gut ausgegangen ist – das stärkt die Grünen und Werner Kogler.

STANDARD: Sie haben der grünen Regierungsmannschaft umgehend zum Ergebnis des Bundeskongresses gratuliert. Da Sie selbst aus einer Jugendorganisation kommen: Wie ernst nehmen Sie, dass die grüne Parteijugend formuliert hat: "Wir kämpfen, dass die ÖVP abgesetzt und Kurz abgewählt wird in den nächsten fünf Jahren"?

Kurz: Jeder kann sich seine Ziele selbst aussuchen. Unser Ziel ist, mit dem Koalitionspartner gemeinsam beste Arbeit für Österreich zu machen. (Conrad Seidl, 7.1.2020)