Laurent Sourisseau (links, sitzend) war beim Anschlag auf "Charlie Hebdo" am 7. Jänner 2015 anwesend. Er wurde von einer Kugel in der rechten Schulter getroffen und überlebte das Attentat, weil er sich tot stellte. Sourisseau übernahm nach dem Anschlag als directeur de publication die Leitung des Magazins zusammen mit Chefredakteur Gérard Biard.

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"Je suis Charlie" – "Ich bin Charlie" – wurde zu einem der bekanntesten Slogans gegen islamistischen Terror. Er entstand unmittelbar nach dem Attentat auf "Charlie Hebdo" und wurde seither in abgewandelter Form für Solidaritätsbekundungen in zahlreichen ähnlichen Fällen verwendet.

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Gedenken an den Anschlag vor fünf Jahren.

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Wenn Blicke wirklich töten könnten, wäre Laurent Sourisseau alias Riss wohl nicht mehr am Leben. "Wir schauten uns in die Augen", beschreibt er die Szene, als die Gebrüder Kouachi mit ihren Kalaschnikows mitten in die Redaktionssitzung stürmten. "Eine Sekunde lang, vielleicht zwei." Der schwarz gekleidete Attentäter schien überrascht, in dem kleinen Raum so viele Leute vorzufinden. "Sein Staunen wurde aber gleich von seiner Aufgabe weggewischt: Er sollte töten."

Riss tauchte reflexartig ab, "wie ein Kind, das sich fallen lässt". Unter dem Bürotisch vergrub er den Kopf in den Armen. Ein Schuss traf ihn in die Schulter. Aber Riss überlebte – anders als zwölf Freunde, darunter fünf Karikaturisten, ein Polizist, eine Chronistin, ein Korrektor: Sie starben alle in der Attacke von "einer Minute und 49 Sekunden", wie der Titel von Riss' Werk lautet.

"Zwei lebend Begrabene"

Heute setzt sich der Zeichner mit übereinandergelegten Händen an den Tisch, verbergend, dass er den rechten Arm nicht mehr heben kann. Auch sein Blick ist schwer, aber wach, eher das Umfeld aufnehmend als sein Innenleben preisgebend. Noch am Nachmittag vor fünf Jahren, als er aus dem Albtraum aufwachte, war er überzeugt, dass ihn die Terroristen wegen seiner Mohammed-Karikaturen im Krankenhaus aufspüren würden, um ihr Werk zu vollenden. Der Frühling danach war kein Fest. Gestützt von einer Massendemo und dem Solidaritätsslogan "Je suis Charlie" machte das Magazin weiter. An der wöchentlichen, von der Polizei schwer bewachten Redaktionssitzung waren sie aber ab laut Riss gelegentlich nur noch zu zweit. "Zwei lebendig Begrabene."

Aber eben: lebendig. "Man versucht, sich nicht überwältigen zu lassen, kein Gefangener dieses Ereignisses zu sein", sagt der damalige Zeichner und heutige Chefredakteur von "Charlie". Das Gleiche gilt für das Blatt mit einer aktuellen Auflage von 55.000 (20.000 mehr als vor dem Attentat): So wie Riss gerne wieder einmal ohne Polizeibegleiter ausgehen würde, wäre das Satiremagazin gerne wieder ein ganz normales Satiremagazin. Natürlich schön provokativ, ja unflätig: Mit der grauslichen Zeichnung des ertrunkenen Migrantenbuben Aylan trat Riss noch im Jahr des Attentats eine neue Polemik los.

Andere heiße Eisen

Mohammed lässt er hingegen links liegen. Nicht aus Feigheit: Der 53-jährige Sohn eines Bestattungsunternehmers macht keine Konzessionen; aber er will loskommen vom Opferstatus und auch vom Image eines Anti-Islamisten-Magazins. Lieber verteidigt er einen bekannten TV-Mann, der wegen eines groben sexistischen Witzes entlassen worden war. "Bürger werden wie kleine Kinder bestraft, nur weil sie Schimpfwörter gebrauchen", ärgert sich Riss.

Ohne verbale Zurückhaltung poltert er gegen jene Linken, die ihm Islamfeindlichkeit unterstellen, wenn nicht Rassismus und Nähe zu Rechtsextremisten. "Kollabos" schimpft er sie – Komplizen von Terroristen. Riss scheut sich nicht, den einflussreichen Chefredakteur des linken Onlinemagazins "Mediapart", Edwy Plenel, anzugreifen, weil dieser den umstrittenen Prediger Tarik Ramadan in Schutz genommen habe.

Mohammed-Karikaturen nur noch, "wenn nötig"

Er selber, der Überlebende, kennt keine Nachsicht mit Islamisten oder dergleichen. Riss zeichnet Mohammed-Karikaturen nur noch, "wenn nötig"; umso mehr drischt er auf die angeblich naiven Vertreter einer wohlmeinenden Laizität ein – all jene Politiker, die die Augen verschließen vor den Vorgängen in den Banlieue-Vierteln. Also jenen Vierteln, wo nach dem 7. Jänner 2015 niemand "Je suis Charlie" skandiert hatte.

Gegen diesen Riss durch die westliche Gesellschaft weiß Sourrisseau – und das soll nun kein Wortspiel sein – auch nicht weiter. Aber er sieht, dass sich sonderbarerweise wieder Messerattacken geistig gestörter Solo-Jihadisten häufen – am Freitag in Villejuif, am Sonntag in Metz. Steigt vor dem fünften Jahrestag die Gewalt des "Charlie"-Massakers aus den Untergründen der französischen Gesellschaft hoch? Dieses Massaker hatte zwar weniger Opfer gefordert als die Anschläge auf den Pariser Konzertsaal Bataclan von November 2015 (130 Tote) oder auf die Strandpromenade in Nizza (86 Tote). Aber der Fall "Charlie" war – und bleibt – symbolischer, und zwar, wie Atheist Riss sagt, nicht im religiösen, sondern im "politischen" Sinn. "Die Leute wurden sich bewusst, dass ihre Gesellschaft bedroht ist." Soldaten mit vorgehängtem Gewehr gehören seit der "Charlie"-Attacke zum Alltagsbild französischer Stadtzentren. Verändert hat sich in den letzten fünf Jahren nur, dass die "union sacrée", die nationale Allianz hinter "Charlie", längst zerbrochen ist, wie auf der Linken der Streit zwischen Riss und Plenel zeigt.

Prozess gegen die Attentäter im Mai

Im Mai beginnt in Paris ein zweimonatiger Prozess gegen die Attentäter auf "Charlie Hebdo" und einen zwei Tage später attackierten jüdischen Supermarkt. Vierzehn Komplizen sitzen auf der Anklagebank, doch die Hauptfiguren sind abwesend, weil nicht mehr am Leben. Riss schweigt sich über seine Teilnahme an den Verhandlungen aus, wohl aus Sicherheitsgründen. Der "Charlie"-Chef sagt nur, er wäre schon froh, wenn er wieder einmal die Pariser Metro benützen könnte. (Stefan Brändle aus Paris, 6.1.2020)