Die Gassen zwischen den Hütten sind namenlos und schmal.

Foto: Bianca Blei

Die Müllsammler von Nairobi suchen vor allem nach Altmetall, das sie dann an Recyclingfirmen weiterverkaufen.

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Vor allem in dem verschmutzten Fluss, der den Slum teilt, suchen die Menschen nach Metall.

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Im Slum profitieren die Bewohner nicht vom Wirtschaftswachstum des Staates.

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Wenn Isaac darüber spricht, wie er missbraucht wurde, dann senkt er den Blick, aber behält eine feste Stimme. Der 14-Jährige aus dem Mukuru-Slum der kenianischen Hauptstadt Nairobi hat Jahre gebraucht, um über seine Geschichte sprechen zu können. Vor allem mit Erwachsenen. Isaac hat Schwierigkeiten zu gehen, die unzähligen Schläge von Lehrern, Verwandten oder anderen Aufsichtspersonen haben ihre Spuren hinterlassen. Mit etwa sechs Jahren ist er das erste Mal davongelaufen. Sein Lehrer hatte ihn wieder einmal verprügelt, und Isaac rannte aus dem Klassenzimmer, schloss sich mehreren Burschen an, die ihm Geld versprachen. Also schnappte er sich einen Sack und sammelte in seinem Slum Altmetall, das er verkaufte. An Schule dachte er nicht mehr. Obwohl seine Mutter immer wieder versuchte, ihn zurück in die Bildungseinrichtung zu bringen, rannte er aufgrund der Gewalt wieder davon. Er wurde einer der unzähligen Straßenburschen, die in Mukuru leben.

Keine Aussicht auf Recht

Es war noch in seinem ersten Jahr auf der Straße – zum Schlafen ging er weiterhin nach Hause –, dass er nahe beim verschmutzten Fluss, der den Slum teilt, nach Altmetall suchte. Ein Mann überfiel den damals Sechsjährigen und vergewaltigte ihn. Ein paar Zeugen des Verbrechens holten seine Mutter, erinnert sich Isaac. Die brachte ihn zur Polizei, nackt und schutzlos. Niemand streifte dem Burschen etwas über. Nach medizinischen Untersuchungen im Krankenhaus meldeten die zuständigen Polizisten schließlich, dass es hoffnungslos sei. Sie würden den Vergewaltiger nie fassen. Ende. Fall geschlossen.

Isaac ging zurück in die Schule, doch die Kinder wussten, was ihm widerfahren war, und hänselten ihn. Als Bursche vergewaltigt zu werden ist eine der größten Erniedrigungen, die einem in Kenia passieren können. Also riss er wieder aus und investierte sein mit Abfallsammeln verdientes Geld in Videospiele und Softdrinks. Die Auswirkungen seiner Zeit auf der Straße spürt Isaac noch immer. Trotz seiner 14 Jahre ist er weiterhin Analphabet und lernte erst im "Mukuru Promotion Centre", erste Buchstaben zu lesen und zu schreiben.

Bildung und Medikamente

Die Einrichtung, die sich etwas außerhalb des Slums befindet, wird von den Barmherzigen Schwestern und der Dreikönigsaktion, dem Hilfswerk der österreichischen Jungschar, unterstützt. Isaac möchte Schreiner werden und vor allem seiner Mutter helfen, die ebenfalls nie in der Schule war. Sein Vater ist mit einer anderen Frau verheiratet. Noch vor Isaacs Geburt wandte er sich von der Kindesmutter ab. Sie brachte ihren Sohn alleine in ihrer Hütte zur Welt – und gab ihm den HI-Virus weiter. Im MPC erhält Isaac neben seiner Ausbildung auch überlebenswichtige Medikamente.

Isaacs Geschichte hört man in mehr oder weniger großen Variationen öfters in den Straßen Nairobis. Die Slumbewohner profitieren nicht vom Wirtschaftswachstum des Staats. Kenia hat zwar seine Position als Wirtschafts- und Finanzzentrum Ostafrikas verfestigt, doch die schlechte Staatsführung und vor allem die grassierende Korruption fordern viele Opfer. Fast 40 Prozent der Kenianer sind arbeitslos. Die meisten wohnen in behelfsmäßigen Siedlungen, wie Mukuru oder Kibera, die es nicht geben dürfte. Weder die Bewohner noch die Behausungen.

Kibera ist der größte Slum Nairobis und der größte urbane Slum Afrikas. Übersetzt bedeutet der Name so viel wie "Dschungel" oder "Wald". Er geht auf eine Siedlung von nubischen Soldaten zurück, die in der britischen Armee dienten und sich Anfang des 20. Jahrhunderts niederließen. Ihre Nachfahren sind die Einzigen, denen die Behörden 2017 eine Besitzurkunde für wenige Hektar Land ausgestellt hat. Keiner der anderen Bewohner hat je eine Genehmigung für den Grund und Boden, auf dem die Wellblechhütten stehen, die auf meistens weniger als acht Quadratmetern mehrköpfige Familien beheimaten.

Verschmutztes Wasser

Wandert man durch die informellen Siedlungen, braucht man einen einheimischen Guide. Die engen Gassen haben keine Namensschilder und sehen einander zum Verwechseln ähnlich. Ein Blick nach oben offenbart, dass auch die Stromversorgung in den Stadtvierteln nicht von den Behörden installiert worden ist. An Holzmasten kommen nur schlecht isolierte Kabel zusammen, die in die einzelnen Behausungen führen. In der Regenzeit weicht der Niederschlag die staubigen Straßen auf und lässt den Slum wie ein Post-Hochwasser-Gebiet aussehen, in dem noch Aufräumarbeiten anstehen. Nur dass die nichts bringen würden. Denn das mit Chemikalien und Fäkalien verschmutzte Wasser dringt in die Hütten. Knöcheltief waten die Bewohner durch den Schlamm, zerrupfte Hennen laufen über den Weg, und am Straßenrand werden tierische Körperteile gegrillt.

Feuer in diesen Siedlungen sind keine Seltenheit, und immer wieder werden sie zur Katastrophe. Erst im März starben drei Menschen durch einen Brand im Mukuru-Slum, bei dem die Flammen 600 Häuser zerstörten und mehr als 200 Familien obdachlos machten. Grund für den Ausbruch des Feuers soll eine undichte Gaskartusche gewesen sein, neben der eine Frau ein Streichholz entfachte.

Internationale Schlagzeilen

Im Jahr 2011 machte das große Feuer im Slum Sinai auch internationale Schlagzeilen. Eine undichte Pipeline hatte Treibstoff verloren und war am 12. September explodiert. 133 Menschen wurden getötet, hunderte verletzt. Die Einsatzkräfte kommen nur schwer durch die engen Gassen. Manchmal schaffen es die Fahrzeuge der Feuerwehr nicht an die Unfallstelle. Private Initiativen wie die von Mike Sonko, dem Gouverneur von Nairobi, werden von den Slumbewohnern dankbar angenommen. Sonko betreibt Ambulanzen und Feuerwehrautos, um den Menschen zu helfen. Doch offenbar nicht uneigennützig. Erst Anfang Dezember war der Gouverneur unter anderem wegen Geldwäsche, Annahme von Bestechungsgeldern und Interessenkonflikten verhaftet worden. Es geht um rund 3,5 Millionen Euro.

Um viel mehr Geld geht es bei den Infrastrukturprojekten, die Nairobi von Staus und Smog befreien sollen. Doch auch diese geschehen auf Kosten der Lebensqualität der Slumbewohner. Alleine um die Autobahn zu verlängern, planierten die Behörden im Vorjahr hunderte Hütten im Slum von Kibera. Das Straßenstück führt gerade durch die informelle Siedlung. Rund zweitausend Familien verloren ihr Zuhause und erhielten keine Entschädigung – immerhin seien ihre Hütten illegal errichtet worden, hieß es.

Keine Arbeit durch Straße

Von der Umfahrung werden die Slumbewohner auch sonst nicht profitieren, ist der Tenor unter den Betroffenen. Wegen der neuen Straßen schließen Geschäfte oder wandern ab, die Menschen in den Siedlungen hätten keine Arbeit mehr, ist sich Schwester Mary Killeen sicher. Die 75-jährige Irin engagiert sich seit Mitte der 1980er-Jahre für die vernachlässigten Menschen Nairobis. Und bereits jetzt erhalten die Armen der Hauptstadt nur Jobs für maximal drei Monate, weiß Killeen: "Dann sparen sich die Unternehmen eine anständige Bezahlung und Versicherungen." Die meisten Slumbewohner leben von weniger als einem US-Dollar am Tag. Betroffen ist die gesamte Familie. Eine Kenianerin gebärt laut Statistik 2,8 Kinder – die Zahl ist in armen Haushalten höher.

Das fehlende Einkommen wirkt sich vor allem auf die Ernährung und Schulbildung der Kleinen aus. Schwester Mary Killeen – die im Rahmen des Mukuru Promotion Centre auch eine Schule betreut – erzählt von Kindern, die in der Früh mit leeren Mägen in den Unterricht kommen. Ihre Eltern können sich oft nur eine Mahlzeit am Tag leisten, und so erhalten sie in der Schule zuerst eine Portion Porridge.

Außerdem bleibt in den Slums kein Geld für öffentliche Schulen und schon gar nicht für private Bildungseinrichtungen. Eigentlich sind die staatlichen Schulen gratis, doch kostet alleine die verpflichtende Uniform rund 30.000 kenianische Schilling, 266 Euro. Weil es zu wenige Klassen für die hohe Anzahl an Schülerinnen und Schüler gibt, heben viele Schulen Extrabeiträge ein, etwa, um Brennholz zu bezahlen oder Bücher anzukaufen.

Zunahme privater Schulen

Wegen des großen Bedarfs nach Bildung bei einer ungenügend Anzahl von Plätzen ist die Zahl der privaten Schulen in Kenia stark angestiegen: von 7742 Schulen im Jahr 2014 auf 16.594 im Jahr 2019. Die privaten Schulen sind aber nicht automatisch besser. Schwester Mary Killeen erzählt von "Community Schools", die etwa von pensionierten Lehrern in den Slums betrieben werden und sich oft in einer kleinen Hütte befinden. Die privaten Schulen werden nur selten vom Staat kontrolliert und bieten für kriminelle Netzwerke eine Möglichkeit, sich an der Not der Slumbewohner zu bereichern.

In Not war auch Catherine Njoki. Die 44-Jährige ist Mutter von sechs Kindern und steht vor ihrer Hütte im Slum Rueben-Kosovo, der ein Teil der Mukuru-Siedlung ist. Die kleine Frau befindet sich mit ihren Gummistiefeln knöcheltief im Schlamm und erzählt vor allem von ihrem Sohn Daniel. "Ich bin Mutter und Vater, das ist nicht leicht", sagt sie. Ihr Mann ist vor neun Jahren gestorben. Daniel habe die Schule geschmissen, sei mit anderen Straßenbuben durch den Slum gezogen. Er schnüffelte Kleber und rauchte Marihuana. Sie wusste nicht mehr weiter.

Keine Kontrolle

Njoki selbst hat einen schweren Alltag. Sie geht um fünf Uhr morgens auf die nahegelegene Müllhalde und hält nach den Trucks Ausschau, die neuen Abfall bringen. Dann sucht sie nach dem Frühstück für die Kinder und sich. Das bereitet sie anschließend zu, macht die Kinder für die Schule fertig und verlässt die Hütte wieder Richtung Mistplatz, wo sie nach Metall sucht, das sie verkaufen kann. Erst spätabends kehrt Njoki heim, um 22 Uhr schläft sie. Daniel habe sie bei diesem Alltag nicht kontrollieren können, doch er sei durch Freunde zum "Mukuru Slums Development Programm" gekommen, das auch von der Dreikönigsaktion unterstützt wird. Dort habe er die Unterstützung erhalten, die ihn wieder zur Schule zurück- und von den Drogen weggebracht habe.

Auch Njoki erhält Hilfe: Zwei Ferkel hat sie im Rahmen des Unterstützungsprogramms für Erziehungsberechtigte bekommen. Die Schweine leben neben ihrer Hütte. Ein halbes Jahr müsse sie sie halten, um sie zu verkaufen oder für die Zucht zu verwenden. Dadurch ist sie nicht mehr nur von ihrer Arbeit auf dem Mistplatz abhängig. Denn für jedes verkaufte Schwein erhalte sie rund 3000 kenianische Schilling oder 27 Euro. Ein Monatslohn – und eine Zukunftsperspektive. (Bianca Blei, 7.1.2020)