Die Ausstellung "Sekretiki" in der Garage Moskau zeigt Underground-Kunst von den Rändern der späten sowjetischen Gesellschaft der 1970er- und 1980er-Jahre.

Foto: Herwig Höller

Mehr als nur eine Hose: Exponat in der Schau "Sekretiki".

Foto: Herwig Höller

Die UdSSR war Mitte der Sechziger in die Jahre gekommen, und den Sonntagsreden altersschwacher Parteibonzen, die ungebrochen eine "leuchtende Zukunft" versprachen, wurde trotz eines mächtigen Propagandaapparats immer weniger geglaubt. Offener Widerstand gegen den autoritären Staat blieb dabei ein Minderheitenprogramm, gerade auch weil kein Ende dieser von KP-Chef Leonid Breschnew geprägten Realsatire abzusehen war.

Viele Menschen wandten sich vor diesem Hintergrund zunehmend den aus ihrer Sicht wirklich interessanten Dingen zu und suchten Nischen, in denen der Kontakt zur Staatsideologie auf ein Minimum reduziert werden konnte. Die aufschlussreiche Ausstellung Kleine Geheimnisse, die derzeit im privaten Museum für zeitgenössische Kunst "Garage" in Moskau zu sehen ist, beschäftigt sich mit diesen Praxen des "reifen Sozialismus" (1966–1986). Und sie verdeutlicht, dass die Kunst des Undergrounds letztlich nur eine von vielen eskapistischen Spielarten der damaligen Zeit war.

Sekretiki, so der russische Originaltitel, bezieht sich auf ein in der UdSSR verbreitetes Spiel vor allem heranwachsender Mädchen, die bunte Objekte unter Glasscherben vergruben, mit Erdreich bedeckten und ihre Verstecke nur ausgewählten Freundinnen zeigten. "Wir haben von Kindesbeinen an gelernt, Dinge geheim zu halten und zu unterscheiden, wem man die kleinen Geheimnisse zeigen kann und wem nicht", meint Kurator Kaspars Vanags zum STANDARD.

Geheime Botschaften

Dieser Titel bezieht sich aber nicht nur auf ausgestellte Arbeiten mit versteckten Inhalten, darunter bunte Glasperlen, mit denen die Moskauer Konzeptkünstlerin Nadeschda Stolpowskaja eine geheime Botschaft verschlüsselte, oder ein kleiner Gedichtband ihres Kollegen Dmitri Prigow, bei dem Heftklammern jegliche Lektüre verhindern. Insbesondere verweist das Kinderspiel auf die gesellschaftliche Relevanz des Ausgrabens: Archäologische Expeditionen galten bei der kritischen Intelligenzija seinerzeit als äußerst gefragt.

Nachdem der in Usbekistan tätige Wjatscheslaw Achunow zuvor seinen Vater bei einschlägigen Grabungen begleitet hatte, schuf er 1979 ein ironisches Skizzenbuch, das archäologische Gräberfunde einer längst untergegangenen Sowjet-Zivilisation "dokumentierte". Im selben Jahr schickte sich die für damalige Verhältnisse radikale Künstlergruppe Fliegenpilz zu künstlerischen Grabungsarbeiten ins Moskauer Umland. Für etwaige Behördenkontakte hatte man einen "streng geheimen" Scherzbrief verfasst, in dem die Partei- und Staatsspitze explizit zur Kooperation mit den Künstlern aufforderte. Ihre Performance verlief damals jedoch ungestört – der KGB zerschlug die Gruppe erst 1984 im Zusammenhang mit anderen "Verdiensten".

Freiräume für Gegenkultur

Die besondere gesellschaftliche Bedeutung archäologischer Expeditionen lässt sich aber gerade in einer Fotoserie von Igor Palmin erahnen: Dieser Chronist des künstlerischen Undergrounds dokumentierte 1977 in Ruhelosigkeit den Alltag von Hippies, die in der südrussischen Steppe beim Freilegen bronzezeitlicher Gräber assistierten. Die Fotografien lassen nicht an die Sowjetunion denken und vermitteln eher den Eindruck, bei Dreharbeiten einer Fortsetzung von Antonionis Zabriskie Point entstanden zu sein.

Ohne Zweifel waren die Freiräume seinerzeit in der Peripherie am größten. Dies gilt nicht nur für südliche Steppen, sondern auch für die lettische Metropole Riga im Westen, die sich seinerzeit den Ruf als sowjetisches Gegenkulturzentrum erarbeitet hatte. Kurator Vanags präsentiert in der Ausstellung nicht nur ein Fotoalbum mit Flower-Power-Happenings aus seiner Heimatstadt, sondern auch Andris Grînbergs Softporno-Experimentalfilm Autoporträt, der 1972 rechtzeitig vor der drohenden Beschlagnahmung durch den KGB versteckt werden konnte.

Kommentar zum Heute

Vorzüge bot aber auch Moskau: Nicht nur, dass verbotene Literatur unter der Hand hier einfacher zu bekommen war, existierten gerade in der Hauptstadt Nischen, in denen man gut bezahlt asowjetischen Vorlieben frönen konnte. Als Artdirector des populärwissenschaftlichen Magazins Wissen ist Macht versteckte der an östlicher Esoterik interessierte Künstler Juri Sobolew buddhistische Ästhetiken im Layout, die reichweitenstarke Zeitschrift selbst publizierte Artikel über autogenes Training. Unter dem Deckmantel von Wissenschaft war vieles möglich – selbst die Beschäftigung mit quasi verbotenen Themen.

Kleine Geheimnisse ist aber nicht nur eine gelungene Ausstellung über ein formal abgeschlossenes Kapitel der spätsowjetischen Geschichte. Sie ist auch ein subtiler Kommentar zu einem von autoritären Tendenzen geprägten Russland, wo gerade im staatlichen Ausstellungsbetrieb Zensur und Selbstzensur ein erschreckendes Ausmaß angenommen haben. War unter Breschnew die Beschäftigung mit der grauen Vorzeit unproblematisch, ist dies heute in ähnlicher Weise für die Erörterung der Sowjetzeit der Fall. Brisante Querbezüge zur aktuellen Situation gelten damals wie heute jedoch als unerwünscht.

Öffentliche Skandalisierung

Selbst private Kunstinstitutionen, darunter auch die von Oligarch Roman Abramowitsch und seiner Ex-Gattin Darja Schukowa subventionierte Garage, kennen diese Grenzen. Denn äußerst aktive, anonyme Blogger, denen eine Affinität zu Geheimdiensten nachgesagt wird, würden diesbezügliche "Verstöße" öffentlich sofort skandalisieren. Die Zeiten haben sich verändert: Im "reifen Sozialismus" wären vergleichbare Denunziationsschreiben noch diskret an das Komitee für Staatssicherheit übermittelt worden. (Herwig G. Höller aus Moskau, 8.1.2020)