"Was mich stört, ist, dass Impfgegner sich um die öffentliche Gesundheit nicht kümmern, aber alle Vorteile öffentlicher Einrichtungen in Anspruch nehmen", sagt Ursula Wiedermann-Schmidt.

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Impfgegner und -gegnerinnen haben möglicherweise eine generelle Abneigung gegen staatliche Empfehlungen und argumentieren stets als Individualisten mit wenig sozialer Verantwortung.

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STANDARD: Laut jüngstem WHO-Bericht steigen die Masernzahlen gerade. Und damit flammen auch die Diskussionen über die Impfung wieder auf. Wie ist Ihre Haltung dazu?

Ursula Wiedermann-Schmidt: Masern sind eine hochinfektiöse Erkrankung. Eine einzige Person kann theoretisch 18 nichtimmune Menschen gleichzeitig anstecken. Wenn ein Kind Pech hat, erlebt es einen schweren Verlauf. Masern sind viel mehr als ein Hautausschlag, sie sind eine gefährliche Erkrankung. Als Immunologin kann ich deshalb nur für eine Masernimpfung sein. Für mich ist es unverständlich, wie man eine Impfung, die eine schwere, gefährliche Krankheit verhindert, infrage stellen kann.

STANDARD: Aber es gibt doch immer wieder Leute, die sagen: "Ich habe die Masern als Kind auch gehabt, und mir ist nichts passiert!"

Wiedermann: Es ist im Zusammenhang mit Infektionen wirklich fatal, wenn Leute von sich selbst auf andere schließen. Wir in den Kliniken erleben die schweren Verläufe, solche, die absolut nicht sein müssten. Masernviren können viele Komplikationen hervorrufen, etwa schwere Mittelohrentzündung, Lungenentzündungen und sogar Gehirnentzündungen. Besonders die Gehirnentzündung ist mit einer sehr hohen Sterberate verbunden. Das sind statistische Fakten, und die WHO veröffentlicht laufend steigende Zahlen. Das besorgt mich.

STANDARD: Was genau?

Wiedermann: Masernviren können das Gehirn von Babys angreifen. Besonders gefürchtet sind die Spätfolgen, die nach Jahren zur Zerstörung des Gehirns mit immer tödlichem Ausgang führen können – wir sprechen von der SSPE, der subakuten sklerosierenden Panenzephalitis. Masernviren können aber das Immunsystem sehr schwächen, indem die Viren T-Zellen und B-Zellen zerstören. Wenn das passiert, funktioniert die Immunabwehr schlecht, und sogar bereits erworbener Abwehrschutz gegen Erreger geht verloren.

STANDARD: Mit welcher Konsequenz?

Wiedermann: Die Immunabwehr gegen Krankheitserreger funktioniert über Monate, manchmal auch für Jahre schlecht, und diese Schwäche ist mit erhöhten Infektionsraten verbunden, Betroffene sind ständig krank. Das sind dramatische Auswirkungen, und es kann für das weitere Leben ein großer Nachteil sein. Vor allem: Es müsste nicht sein. Eine Impfung schützt den Organismus gegen all diese Gefahren.

STANDARD: Da denken die Impfgegner anders.

Wiedermann: Durch die sozialen Medien haben die Impfgegner enormen Aufwind bekommen. Wir haben eine Studie gemacht und festgestellt, dass die Gruppe der dogmatischen Impfgegner relativ klein ist. Doch ihre Schlagkraft in den sozialen Medien ist enorm, weil sie dort ein riesiges Publikum erreichen. Jeder, der nicht über immunologisches Know-how verfügt, kann deshalb auch die von den Impfgegnern vorgebrachten Argumente nicht einordnen oder richtig beurteilen.

STANDARD: Auch Impfgegner argumentieren gerne mit Studien ...

Wiedermann: Aber keine der vorgebrachten Studien ist in ihrer Argumentation haltbar. Sie berufen sich meist auf Einzel- oder Eigenbeobachtungen ohne Nachweis einer Kausalität, also eines ursächlichen Zusammenhangs. Zudem fehlen nahezu immer Kontrollgruppen, die die vorgebrachten Thesen beweisen würden. Impfgegner und Impfgegnerinnen arbeiten vor allem mit negativen Emotionen, sehr oft mit Angst, auch Verschwörungstheorien sind sehr beliebt.

STANDARD: Was sind Anzeichen einer seriösen Studie?

Wiedermann: Seriöse Daten beruhen auf harten Fakten, also solchen, die wiederholbar sind. Dafür müssen die Studienkohortendaten randomisiert und verblindet sein. Nur so sind Ergebnisse auch objektiv richtig. Impfgegner argumentieren im Gegensatz dazu immer subjektiv und emotional. Das Wohl einer großen Menge von Menschen, also der anderen, interessiert sie meist nicht, sie argumentieren immer aus Sicht des Individuums – etwa dass sie selbst die Erkrankung auch durchgemacht haben und unbeschadet überstanden haben. Das heißt aber nicht, dass andere Kinder das deshalb auch gut überstehen. Impfgegnern sind die öffentliche Gesundheit und die soziale Gemeinschaft meistens vollkommen egal.

STANDARD: Wie genau meinen Sie das?

Wiedermann: Impfgegner argumentieren aus einer individualistischen Grundeinstellung. Sie klammern die soziale Komponente, die bei der Übertragung von Infektionskrankheiten eine Rolle spielt, immer aus. Die Tatsache, dass ein einziges Masernkind viele andere anstecken kann, ist deshalb kein Argument für sie. Auch die Tatsache, dass in Schulen und Kindergärten Kinder sein könnten, deren Immunsystem geschwächt ist, nehmen sie nicht zur Kenntnis. Und das ist die Krux. Die Masern und viele andere Infektionserkrankungen sind so ansteckend, dass man eine Durchimpfungsrate von 95 Prozent braucht, um das Virus zu stoppen. Wenn eine Masernepidemie ausbricht, dann sind die Babys und Kleinkinder, Schwangere und immungeschwächte Patienten die am stärksten gefährdeten. Das nehmen Impfgegner in Kauf. So eine Einstellung sollten aber Menschen, denen Gemeinschaft etwas bedeutet, nicht akzeptieren müssen.

STANDARD: Sie sagen also, dass eine Masernimpfung nicht nur eine medizinische Maßnahme, sondern auch mit sozialer Verantwortung verbunden ist. Die, die sich nicht impfen lassen, lehnen auch eine soziale Verantwortung ab. Stimmt das?

Wiedermann: Genau. Was mich daran stört, ist, dass Impfgegner sich um die öffentliche Gesundheit nicht kümmern, aber alle Vorteile öffentlicher Einrichtungen in Anspruch nehmen, eben Schulen und Kindergärten zum Beispiel. Und genau dort, wo viele Leute auf engem Raum zusammenkommen, verbreiten sich die Masern rasend schnell. Dieses Jahr mussten ein paar Schulen in Österreich wegen der Masern schließen.

STANDARD: Sind Sie deshalb für eine Impfpflicht?

Wiedermann: Mit dem Wort "Pflicht" in diesem Zusammenhang tue ich mir schwer. Verantwortung trifft eher zu. Es ist eine Verantwortung für sich selbst und für andere. Am liebsten wäre mir, wenn alle die Sinnhaftigkeit von Impfungen verstünden und froh wären, sie in Anspruch nehmen zu können. Statt einer Impfpflicht wären mir staatlich finanzierte und vor allem nachhaltige Aufklärungsstrategien viel lieber. Wenn das alles zu keiner Verbesserung der Situation führt, müsste man allerdings schon überlegen, wie sich diese Verantwortung für andere einfordern lässt. Wer in eine öffentliche Gemeinschaftseinrichtung wie etwa eine Kinderkrippe, den Kindergarten oder eine Schule eintreten will, sollte einen Impfschutz vorleben können.

STANDARD: Erstaunlicherweise ist gerade die Durchimpfungsrate unter dem medizinischen Personal in Krankenhäusern besonders niedrig.

Wiedermann: Das empfinde ich als eines der größten Probleme. Denn erstens ist das Gesundheitspersonal in Spitälern mit einer Reihe von immunsupprimierten, schwer kranken Menschen konfrontiert; und zweitens sind gerade sie diejenigen, die in medizinischen Fragen die ersten und wichtigsten Ansprechpersonen sind. Sie haben auch eine wichtige Vorbildrolle; sich impfen zu lassen ist ein Teil davon.

STANDARD: Meinen Sie eine Impfpflicht für medizinisches Personal?

Wiedermann: Ja. Ich habe immer gesagt, dass verpflichtende Impfungen für das Gesundheitspersonal eine entsprechende gesetzliche Grundlage brauchen. Und zwar dringend und auch für die Influenza-Impfung. Und zwar für alle, also all jene, die neu in ein Dienstverhältnis im medizinischen Bereich einsteigen, wie auch für alle, die schon angestellt sind.

STANDARD: Welche Maßnahmen fänden Sie bei der breiten Bevölkerung sinnvoll?

Wiedermann: Ein verpflichtendes ärztliches Gespräch mit Eltern, bevor deren Kinder in öffentlichen Einrichtungen betreut werden. Das ist die Minimalforderung, auf die wir uns im Sanitätsrat auch schon geeinigt haben. Diese verpflichtenden Impfgespräche mit dem Kinderarzt können auch öfter durchgeführt werden. Sie sind die Grundlage. Kinder, die in eine öffentliche Einrichtung eintreten, müssen ihren kompletten Impfstatus nachweisen.

STANDARD: Warum sind überdurchschnittlich gut gebildete Leute gegen Impfungen?

Wiedermann: Wir haben eine Studie dazu gemacht und festgestellt, dass Leute mit Matura, die sonst keinen Bezug zum Gesundheitswesen haben, besonders kritisch sind. Sie sind sehr schwierig zu erreichen und noch schwieriger zu überzeugen. Sie haben oft ein allgemeines Unbehagen gegenüber Obrigkeiten aller Art, da gehören Impfempfehlungen des Obersten Sanitätsrats dazu. Es könnte also auch sein, dass die Impfmüdigkeit mit einer gewissen Politikverdrossenheit einhergeht.

STANDARD: Impfen als politische Debatte?

Wiedermann: Besonders populistische Parteien pochen gerne auf Selbstbestimmung, die Debatte über das Rauchverbot hat das auch gezeigt. Beim Impfen scheint es ähnlich zu sein. Doch in Fragen der Gesundheit hat diese Selbstbestimmung mitunter gefährliche Aspekte, vor allem dann, wenn das entsprechende Wissen fehlt und damit anderen Schaden zugefügt wird. Gerade hier sehe ich es als wichtige politische Aufgabe, die Dinge zu ändern und die Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung zu heben.

STANDARD: Was wäre zu tun?

Wiedermann: Es ist eine Frage der Bildung. Gesundheitserziehung sollte so früh wie möglich, schon im Kindergarten, beginnen. Je besser eine Bevölkerung aufgeklärt und informiert ist, umso einfach funktionieren auch Vorsorgemaßnahmen wie Impfungen. Da geht es vor allem um den Gedanken, Krankheiten wie Masern von vornherein zu vermeiden, also um Prävention.

STANDARD: Statt was?

Wiedermann: Statt Reparaturmedizin. Wenn die Masern erst einmal da sind, lässt sich medizinisch nur mehr wenig machen. Masern sind Viren, Antibiotika helfen nicht. Vorsorge anstelle von Nachsorge trifft nicht nur für Impfungen, sondern auch für Ernährung, Bewegung und regelmäßige Gesundheitschecks zu. Prävention ist die Zukunft, davon bin ich überzeugt. (Karin Pollack, 18.1.2020)