Darstellung der Radcliffe-Welle innerhalb der Milchstraße, in der zahlreiche Sterne entstehen. Es ist die größte Gasstruktur unserer Galaxie.

Illustration: Alyssa Goodman / Harvard University

Der britische Astronom John Herschel stellte Mitte des 19. Jahrhunderts fest, dass viele helle Sterne am Nachthimmel in einer Zone angeordnet sind, die leicht zur Milchstraßenebene geneigt ist. Der US-Forscher Benjamin Gould untersuchte wenige Jahrzehnte später dieses Phänomen näher und stellte fest, dass die Sonne und ihre galaktische Nachbarschaft von einem Ring aus jungen Sternen, Gas und Staub umgeben sind, der um etwa 20 Grad zur Ebene der Milchstraße geneigt ist. Bekannt wurde diese Struktur als Gouldscher Gürtel.

Allerdings rätseln Astronomen schon länger, ob der Ring aus Sternen und Sternengeburtsstätten in dieser Form wirklich existiert. Vor wenigen Jahren erstellte ein internationales Forscherteam, dem auch João Alves vom Institut für Astrophysik der Universität Wien angehörte, eine dreidimensionale Karte von bestimmten Sternen in der Region, die eine vergleichsweise kurze Lebensdauer haben und als wichtige Indikatoren für Sternentstehung in der jüngsten Vergangenheit gelten.

Anhand von Daten des 1989 gestarteten Esa-Satelliten Hipparcos zeigte sich, dass die besagte Ringstruktur in 3D deutlich anders aussehen könnte als gedacht – und sich der Gouldsche Gürtel womöglich nur durch einen Projektionseffekt ergibt. Beobachtungen der Esa-Raumsonde Gaia, die sich seit 2013 im All befindet, konnten Alves und Kollegen von der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, zufolge den Verdacht nun erhärten.

Welle als Sternenwiege

Anstatt eines Ringes präsentierten sie nun im Fachblatt "Nature" eine überraschende Entdeckung: Sie sind auf eine gigantische wellenförmige Struktur gestoßen, die sich ober- und unterhalb der sogenannten galaktischen Scheibe erstreckt. Und diese gashaltige Riesenwelle umfasst viele jener Sternentstehungsgebiete, die bisher dem Gouldschen Gürtel zugeordnet worden waren.

"Wir haben die größte zusammenhängende Gasstruktur in der Galaxie gefunden, die nicht als Ring, sondern als gewaltiges wellenförmiges Filament angeordnet ist", sagte Alves. "Die Sonne ist nur 500 Lichtjahre vom nächstgelegenen Punkt der Welle entfernt. Diese Struktur war also die ganze Zeit direkt vor uns, aber wir konnten sie bisher nicht sehen."

Für die Koautorin Alyssa Goodman von der Harvard University war die Entdeckung eine regelrechte Revolution: "Wir waren geschockt, als wir zum ersten Mal erkannt haben, wie lange und gerade die Welle von oben in einer 3D-Ansicht ist und wie gewellt sie im Vergleich dazu von der Erde aus betrachtet wirkt. Das zwingt uns dazu, unser Verständnis von der Struktur der Milchstraße zu überdenken." Der Gouldsche Gürtel hat damit als Modell zur Erklärung der Struktur unserer direkten Nachbarschaft in der Milchstraße wohl endgültig ausgedient.

Dunkle Spekulationen

Den Autoren zufolge hat die riesige Welle, die nach dem Radcliffe Institute for Advanced Study in Harvard als "Radcliffe-Welle" benannt wurde, eine Gesamtlänge von etwa 9.000 Lichtjahren und eine Breite von nur 400 Lichtjahren. Dieses lange, dünne Band ist wellenartig ausgeprägt und ragt rund 500 Lichtjahre nach oben und unten aus der Hauptebene unserer Galaxie heraus.

Wie die Radcliffe-Welle zu ihrer Form kam, ist bislang allerdings unklar. Sie sei zu groß und zu langgezogen, um durch die Effekte einer früheren Generation massereicher Sterne entstanden zu sein, schreiben die Forscher. Es muss also ein anderer Prozess dafür verantwortlich sein – etwa die gravitative Wirkung einer rotierenden Zwerggalaxie in nicht allzu großer Entfernung. Bislang wurde aber noch kein passender Kandidat dafür gefunden. Freilich gibt es auch schon exotischere Spekulationen: etwa dass Dunkle Materie formgebend sein könnte.

Klar ist jedenfalls, dass die Sonne immer wieder mit dieser Struktur interagiert: Berechnungen zufolge passierte unser Sonnensystem die Riesenwelle vor 13 Millionen Jahren, in weiteren 13 Millionen Jahren wird es wieder so weit sein, so Alvares: "Wir werden sozusagen auf der Welle reiten." (David Rennert, 9.1.2020)