Landschaft als offene Frage: Der Künstler Christian Gmeiner gestaltete Tafeln zur Erinnerung an das einstige NS-Lager in Krems-Gneixendorf.
Foto: Christian Gmeiner

"Ich bin gesund, es geht mir gut." 20.000 St. Pöltener erhielten über einen Zeitraum von zwei Jahren Ansichtskarten, die an Text neben einer Webadresse nicht mehr als diese banale Phrase enthielten. Die Bildseite zierten idyllische Seenlandschaften oder schneebedeckte Felder. Orte, in deren historischer DNA jedoch der Horror systematischer NS-Verbrechen eingeschrieben ist. Denn dort, wo heute ein Badesee, Wiesen und Felder sind, waren einst zwei Lager: eines für Juden, eines für Zwangsarbeiter.

Mit ihrer Kartenaktion wollte die Künstlerin Tatiana Lecomte die Geschichte dieser "unsichtbaren Lager" auf subtile Weise ins Bewusstsein der St. Pöltener holen. Die nichtssagende Mitteilung ohne Unterschrift war nämlich die Standardphrase, ohne die keine Nachricht von Lagerinsassen aus Mauthausen und anderen KZs die Zensur passieren und an die Außenwelt gelangen konnte.

Dunkelziffer

Wie in St. Pölten gibt es in ganz Niederösterreich vergessene Lager, sei es für Kriegsgefangene, politisch, rassisch oder genetisch Unerwünschte, für Vertriebene und Geflüchtete. Wie man diese oft vergessenen und unsichtbar gewordenen Schreckensorte zur Vermittlung von Geschichte nutzen könnte, diskutierten Ende vergangenen Jahres Experten bei einer internationalen Tagung in St. Pölten.

Oft ist von ihnen nichts mehr erhalten, mitunter erinnern zumindest noch Straßennamen wie "Lagergasse" daran. "Wir haben rund 170 solche Lager aus der Zeit der beiden Weltkriege gezählt", berichtet Anne Unterwurzacher von der Fachhochschule St. Pölten. Tatsächlich aber gebe es noch etliche mehr, wie sich auf der Tagung herausstellte. "Da es keine zeitgeschichtlichen Überblickswerke dazu gibt, erfährt man oft nur über lokale Initiativen, die leider selbst meist mehr oder weniger unsichtbar sind, von der Existenz solcher Lager."

So wissen etwa die wenigsten, dass sich im Kremser Stadtteil Gneixendorf einst eines der größten NS-Kriegsgefangenenlager Österreichs befunden hat. Heute erinnern daran nur noch sechs Stahltafeln des Künstlers Christian Gmeiner, welche die enorme Ausdehnung dieses Lagers nachvollziehbar machen. An die 40 Baracken zur Unterbringung von je 300 Männern befanden sich auf dem etwa einen Quadratkilometer großen Areal. Je nach Kriegsverlauf schwankte die Zahl der dem Gefangenenlager zugeteilten Menschen zwischen 50.000 und 65.000. Der Großteil wurde an Außenkommandos überstellt und als Arbeitskräfte in der Rüstungsindustrie, in Gewerbebetrieben und der Landwirtschaft eingesetzt. Im Lager Gneixendorf selbst waren durchschnittlich 12.000 Gefangene untergebracht. Wie viele Menschen hier starben, ist nicht bekannt. Allerdings gibt es Berichte über eine Exhumierung von mehr als 1600 Russen, die im Lager an Typhus zugrunde gegangen sein sollen.

Die Lagergasse in Laa an der Thaya: Überbleibsel eines Lagers aus der NS-Zeit.
Foto: Judith Kreiner

Wenig bekannt und noch kaum erforscht ist auch die Geschichte der "Heil- und Pflegeanstalt" Mauer-Öhling in der NS-Zeit. Mit rund 2000 Betten war das die drittgrößte Klinik der "Ostmark", die an der Ermordung von Psychiatriepatienten beteiligt war. Im gesamten Deutschen Reich wurden zwischen Jänner 1940 und August 1941 im Rahmen der "Aktion T4" zur systematischen Eliminierung sogenannter Ballastexistenzen rund 70.000 Menschen ermordet.

Schmerz und Schweigen

Nicht enthalten in dieser Zahl sind all jene, die durch gezielte Mangelernährung verhungerten, durch Vernachlässigung und herbeigeführte Infektionen qualvoll starben oder mit Tabletten und Injektionen ermordet wurden. Auch in Mauer-Öhling kamen viele Patienten auf diese grauenvolle Weise um, zudem wurden etwa 1600 in die Tötungsanstalten Schloss Hartheim bei Linz und Gugging "verschickt".

Die Erinnerung an solche Orte ist schmerzhaft, vor allem wenn man in ihrer unmittelbaren Nähe lebt. Das wurde auch im Postkartenprojekt sichtbar, wie eine E-Mail an die Künstlerin demonstriert: "bitte können sie endlich aufhören mit ihren verblödeten karten, jeder schreckt sich, jeder hat angst. der krieg ist vorbei und sie sind ohnedies zu jung dazu, um zu berichten."

Aber Schweigen ist keine Option, auch wenn es angesichts der verschwundenen Lager sehr einfach wäre. "Weil es bald keine Zeitzeugen mehr geben wird, sind Orte wie diese ein enorm wichtiger Bestandteil der Erinnerungskultur", sagt Anne Unterwurzacher. "Dem ‚authentischen‘ Ort wird nämlich Zeugenschaft und damit Wahrhaftigkeit zugeschrieben."

Wie aber können unsichtbare Lager zu Erinnerungsorten werden? "Wie sich etwa am Zwangsarbeiterlager bei St. Pölten zeigt, kann hier ein künstlerischer Zugang sehr viel in Bewegung bringen", so die Expertin für lokale Erinnerungskulturen. Auch Ausstellungen, Rundgänge oder Workshops lassen ein Gefühl für die Geschichte eines Ortes entstehen. Besonders hilfreich sei dabei jedenfalls der Einsatz digitaler Medien. "Damit kann man auch Jugendliche sehr gut erreichen", weiß Edith Blaschitz vom Bereich Digital Memory Studies der Donau-Universität Krems, gemeinsam mit Unterwurzacher eine der Organisatorinnen der Tagung.

Durch 3D-Rekonstruktionen können unsichtbare Lager realistisch "wiederaufgebaut" und virtuell sogar besucht werden. Die Einrichtung digitaler Plattformen macht es zudem möglich, Informationen von und über ehemalige Gefangene, deren Nachkommen heute auf der ganzen Welt verstreut leben, an einer Stelle zusammenlaufen zu lassen. "So können auch Dokumente, Zeitzeugeninterviews und Fotos aus unterschiedlichsten Archiven verlinkt werden."

Digitale Erinnerungshilfen

Ein entsprechendes EU-Projekt mit dem Titel "Accessing Campscapes" (auf Deutsch etwa: Lagerlandschaften zugänglich machen) wurde gerade abgeschlossen. "Eine solche digitale Lagerplattform wäre aus Sicht unseres Forschungsnetzwerks Interdisziplinäre Regionalstudien (kurz: First) auch für niederösterreichische Standorte wichtig", sagt Blaschitz. Denn nach Jahrzehnten des Vergessens dränge das Lagerthema in Österreich zurzeit massiv an die Oberfläche, seine Aufarbeitung hänge aber weitgehend von der Initiative von Einzelkämpfern ab. "Diese Leute wollen wir durch Vernetzung unterstützen."

Zudem müssen dringend die letzten Zeitzeugenberichte und -dokumente gesichert werden, bevor es zu spät ist. Warum man sich diesem schmerzhaften Kapitel der Regionalgeschichte erst so spät annähert, liegt auf der Hand. Gab es doch in all den betroffenen Orten Beteiligte oder zumindest einigermaßen Informierte, die nur zu gern den Mantel des Schweigens über die Sache breiteten. Mit dem letzten Generationenwechsel scheint der zeitliche Sicherheitsabstand zu den Ereignissen nun groß genug geworden zu sein. (Doris Griesser, 12.1.2020)