Als Ursache für den Rückgang der durchschnittlichen Körpertemperatur vermuten die Wissenschafter Veränderungen im menschlichen Metabolismus.

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Der deutsche Internist Carl Reinhold August Wunderlich schrieb Medizingeschichte: Mitte des 19. Jahrhunderts erkannte er, dass Fieber keine eigene Krankheit ist, sondern eine Begleiterscheinung. Der Leipziger Professor setzte auf strenge diagnostische Methodik und führte das Fieberthermometer und die Registrierung der Fieberkurve in die Medizin ein. Er war es auch, der anhand der Messdaten von 25.000 Patienten die durchschnittliche Normaltemperatur im menschlichen Körper festlegte: 37 Grad Celsius.

Noch heute haben viele Menschen 37 Grad als die Grenze zwischen Normaltemperatur und Fieber im Kopf. Allerdings kamen etliche Studien in den vergangenen Jahrzehnten zu anderen Ergebnissen – und zwar allesamt zu etwas niedrigeren. Zuletzt errechneten britische Forscher anhand von 250.000 Temperaturmessungen an 35.000 Patienten eine Durchschnittstemperatur von 36,6 Grad Celsius.

Lag der Pionier Wunderlich also daneben? Forscher des Stanford University Medical Center gingen dieser Frage genauer nach und kommen im Fachblatt "E-Life" zu dem Schluss: Die Diskrepanzen sind nicht auf Messfehler oder falsche Methodik zurückzuführen, sondern auf eine geradlinige physiologische Entwicklung. Demnach ist die durchschnittliche Körpertemperatur – zumindest von US-Amerikanern – in den vergangenen 150 Jahren stetig gesunken. Als Ursache vermuten die Wissenschafter Veränderungen im menschlichen Metabolismus.

Historische Datensätze

Für ihre Studie untersuchten Julie Parsonnet und Kollegen umfangreiche Datensätze von US-Amerikanern aus drei unterschiedlichen historischen Perioden. So analysierten sie medizinische Aufzeichnungen der US-Army aus den Jahren 1862 bis 1930. Eine Erhebung des US-National Center for Health Statistics lieferte Daten aus dem Untersuchungszeitraum von 1971–1975. Und schließlich griffen die Wissenschafter noch auf die hausinterne Dokumentation zu Patienten des Stanford University Medical Center aus den Jahren 2007 bis 2017 zurück.

Mithilfe eines statistischen Modells zeichneten die Wissenschafter dann aus rund 680.000 dokumentierten Temperaturmessungen die Entwicklung von 1862–2017 nach. Das Ergebnis zeigt einen kontinuierlichen Trend nach unten: Im Schnitt sank die Körpertemperatur um 0,03 Grad Celsius pro Jahrzehnt. "Die durchschnittliche Temperatur von Anfang des 19. Jahrhunderts geborenen Männern war um 0,59 Grad höher als von Männern heute", schreiben die Forscher. Bei Frauen sei eine vergleichbare Entwicklung feststellbar, wobei die Untersuchung auch frühere Ergebnisse bestätigte, dass Frauen, jüngere und übergewichtige Menschen eine etwas höhere Durchschnittstemperatur aufweisen und es auch Schwankungen im Lauf des Tages gibt.

Veränderter Stoffwechsel

Könnten die Messdiskrepanzen aber nicht auch durch die Entwicklung besserer Thermometer im Lauf der Zeit zustande gekommen sein? Das schließen Parsonnet und Kollegen explizit aus: "Wir überprüften die Temperaturentwicklung der einzelnen Jahrgänge innerhalb der Datensätze unter der Annahme, dass in den historischen Gruppen jeweils vergleichbare Thermometer verwendet wurden", schreiben die Forscher. Der dabei festgestellte Temperaturtrend zeigte aber ebenfalls kontinuierlich nach unten und passte ins Gesamtbild.

Bleibt die Frage nach den Ursachen für den Rückgang. Die Wissenschafter nehmen an, dass die Abnahme der basalen Stoffwechselrate dafür verantwortlich sein könnte, auch bekannt als Grundumsatz. Sie sehen etwa im besseren Zugang zu Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung und generell in unserem komfortableren Lebensstil (inklusive besser geheizter Wohnräume) wichtige Faktoren dafür. "Physiologisch betrachtet sind wir anders als die Menschen vor 200 oder 150 Jahren", sagte Parsonnet. "Unsere Umgebung und die Bedingungen, unter denen wir leben, haben sich verändert. Und wir auch." (David Rennert, 10.1.2020)